Buchtipp/-rezension: Afrikanische Karrieren: Einfallsreich, kreativ und wagemutig.

Buchtipp/-rezension: Afrikanische Karrieren: Einfallsreich, kreativ und wagemutig.In seinem neuen Buch „Afrikanische Aufbrüche“ schildert der Afrika-Kenner David Signer die Lebenswege von 18 Afrikanern, denen es trotz sehr harter Widerstände gelang, ihre Wünsche zu verwirklichen, und die nicht nach Europa strebten. David Signer ist als einer der sachkundigsten Afrika-Experten weithin bekannt. Er hat Ethnologie, Psychologie und Linguistik in Zürich und Jerusalem studiert. Er war Redakteur beim Tagesanzeiger, der Weltwoche und schließlich seit 2013 bei der NZZ für Afrika zuständig. Von 2016–2020 war Signer Afrika-Korrespondent der NZZ mit Sitz in Dakar/Senegal.

Signer konnte in den Jahrzehnten seiner Feldforschung und in seiner Zeit als Korrespondent auch die Auswüchse der sogenannten Entwicklungshilfe in Afrika beobachten (vgl. „Afrika hat genug von seinen Helfern“ und „Entwicklungshilfe: Berichte über Korruption für jedermann zugänglich“).

Er ist auch Autor des bahnbrechenden Buches „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“ (Hammer, 2004). Anhand konkreter Beispiele untersuchte Signer jahrelang das westafrikanische Denken und zeigt Hintergründe auf. Er macht verständlich, weshalb die „Ökonomie der Hexerei“ Fortschritt behindern kann. (Das Buch ist leider nur noch in der EBook-Version erhältlich.)

Afrikaner, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen
In seinem kürzlich erschienenen Buch „Afrikanische Aufbrüche“ (NZZ Libro, 2021) spürt Signer den Lebenswegen von 18 afrikanischen Männern und Frauen nach, denen es trotz sehr harter Widerstände gelang, ihre Wünsche zu verwirklichen, und die nicht nach Europa strebten. Das Buch verschafft uns einen außergewöhnlichen Einblick in die Lebenswirklichkeit von Menschen, die in den üblichen Berichten aus Afrika Gefahr laufen, unsichtbar zu bleiben. Signer idealisiert nicht. Er weist auf Eigenheiten, Abhängigkeiten und Schwierigkeiten hin und erläutert, warum viele Afrikaner noch immer in großer Armut leben.

Einige Highlights des sehr lesenswerten neuen Buches:
„Die Elite lebt bequem von einer automatisch fließenden Rente, erachtet es nicht für nötig, die Wirtschaft zu diversifizieren und pflegt Klientelismus und Korruption… Die rechtlichen Verhältnisse sind oft unklar, die Bürokratie kompliziert, zähflüssig und korrupt… Einen festen, bezahlten Job zu haben ist die Ausnahme. Und selbst Staatsangestellte erhalten ihren Lohn monatelang nicht. Die meisten wursteln sich nach wenigen Schuljahren mit Gelegenheitsjobs im informellen Sektor durch… Zudem ist die Bevölkerung in der Zwischenzeit enorm gewachsen. Man geht davon aus, dass sie sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird, das heißt, sie wird dann mehr als zwei Milliarden umfassen. So wie es jetzt aussieht, können für diese neue Generation niemals genug Arbeitsplätze geschaffen werden. Jegliches Wirtschaftswachstum wird ‚weggefressen‘.“ (Seiten 10–12)

David Signer erzählt Geschichten von Afrikanern, die nicht bereit waren, die Gegebenheiten zu akzeptieren, wie sie sind. Sie wollten verändern, ihr Leben gestalten und nicht in den Norden emigrieren. Bei allen war der Wunsch, sich zu verbessern oder sich weiterzubilden, stark ausgeprägt.

Dem armen Dorfjungen Godfrey Masauli aus Malawi gelang es nach einer Reihe unwahrscheinlicher Ereignisse, eine Pilotenlizenz für eine Cessna zu bekommen. (Seiten 29–34)

Eine „anständige“ Frau heiratet, aber in Kinshasa gibt es Frauen, die sich gegen alle gesellschaftlichen Normen selbst durchschlagen: als Boxerinnen. (S. 49–56)

Der Senegalese Abdoulaye Keita, dessen Mutter gelähmt und dessen Vater geisteskrank war, wurde als Kleinkind weggegeben, er wuchs bei Verwandten in desolaten Verhältnissen auf. Heute hat er eine verantwortungsvolle Stelle in einem Sozialprojekt inne. Diesen Aufstieg hat er, so Signer, „weder dem Staat noch irgendeiner Art von Entwicklungshilfe zu verdanken, lediglich seiner eigenen Intelligenz und seiner Widerstandskraft“. (S. 71)

In Burkina Faso ist jede dritte Hebamme männlich
„Der religiöse Extremismus äußert sich in Afrika nicht nur islamisch, sondern auch christlich. Freikirchen sind in Ghana allgegenwärtig und oft fanatisch.“ Um dem Glaubensterror entgegenzuwirken, gründeten junge Ghanaer die „Humanist Association of Ghana“. In einem Porträt beschreibt Signer die 32-jährige Präsidentin des Klubs, Rosyln Mould. (Seiten 101–105)

Wie fast überall in Afrika findet das Leben draußen statt. Signer schildert das Leben einer Wäscherin im Senegal, die inmitten von Verkehr, Lärm und Schmutz arbeitet. Sie ist rechtlos und verdient fast nichts. Doch die Wäscherinnen haben sich kürzlich organisiert. Längerfristig plant die Vereinigung, ein Lokal zu mieten, in dem die Frauen arbeiten und abwechselnd auf alle Kinder aufpassen könnten. Außerdem ist eine selbsttragende Krankenkasse geplant. (Seiten 109–112)

In Gabun hat Jean Elvis Ondo den Auftraggebern von Ritualmorden den Kampf angesagt. „In der traditionellen afrikanischen Medizin spielen Opfer, Fetische, Amulette, sogenannte Gris-Gris, eine wichtige Rolle… Gemeinhin geht man davon aus, dass die dargebotenen Opfer umso größer ausfallen müssen, je gewichtiger das Anliegen ist… Will jemand allerdings Minister werden, gibt es bestimmt Leute in seinem Umfeld, die zur Opferung eines Kindes raten… Will einer mehr Macht oder Reichtum, muss ein anderer Macht oder Reichtum verlieren. Einer muss – im doppelten Sinn des Wortes – geopfert werden. (Seiten 143–144).

Auch in den anderen Geschichten sind die Afrikaner einfallsreich, kreativ und wagemutig. Signer schildert z.B. ein Straßenkind, das den ersten Zirkus im Senegal gründet, wie ein Blinder in Kenia eine Sozialfürsorge für seine Gemeinde auf die Beine stellt, wie ein ehemaliger Kindersoldat im Kongo ins normale Leben zurückfand, wie ein Gambier nach einem Studium in St. Gallen in Gambia trotz Willkür in seinem Land ein Backstein- und Bauunternehmen aufbaut und warum in Burkina Faso jede dritte Hebamme männlich ist.

Ein Meister des pointierten Erzählens
Die männlichen Sapeurs aus den Armenvierteln von Kongo-Brazzaville mit ihrer wilden Kombination von Designeranzügen sind berühmt geworden. Die meisten Sapeurs arbeiten tagsüber als Taxifahrer, Schneider, Gärtner, Tagelöhner, verwandeln sich aber nach Feierabend in lässig-elegante Dandys. (Tariq Zaidi: Sapeurs. Ladies and Gentlemen of the Congo, Kehrer, 2020).

Signer beschreibt in seinem Buch ein Treffen mit der originellen Ntsimba Marie Jeanne Bifouma, die den Männern Konkurrenz macht. Sie macht sich lustig über jede Art von Herrschaft und bringt Farbe und Fröhlichkeit in den tristen Alltag des von Müll und Schmutz beherrschten Brazzaville.

Das Buch bietet nach solider Recherche, Lokalaugenschein und Hintergrundgesprächen viele großartige Geschichten. David Signer gehört zu den am besten lesbaren und unterhaltsamsten europäischen Autoren über Afrika. Er ist ein Meister des pointierten Erzählens, der den Erkenntniswert von Anekdoten auszumünzen weiß. Besser kann man nicht für gegenseitige Toleranz und Achtung verschiedener Kulturen werben. (Quelle: achgut.com, mit freundlicher Genehmigung des Autors Volker Seitz*)

*Volker Seitz war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er gehört zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe und ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“. Die aktualisierte und erweiterte 11. Auflage erschien am 18. März 2021. Volker Seitz publiziert regelmäßig zu afrikanischen Themen und hält Vorträge (z.B. „Was sagen eigentlich die Afrikaner“, ein Afrika-ABC in Zitaten).