HBS-Interview mit einer Aktivistin aus dem Sudan

HBS-Interview mit einer Aktivistin aus dem Sudan
©Ulf Terlinden

„Wir warten auf einen Waffenstillstand, um wieder Widerstand leisten zu können“. Am vergangenen Wochenende sind im Sudan heftige Kämpfe ausgebrochen. Über die Lage der Menschen in Khartum, die Forderung nach Zivilherrschaft und Demokratie und die Erwartungen an Europa sprach die Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) mit Duaa Tariq, sudanesische Aktivistin, Menschenrechtsverteidigerin und Künstlerin.

Duaa, Du bist seit Beginn der Kämpfe in Khartum – was bedeuten sie für die Zivilbevölkerung, wie betrifft die Gewalt Dich persönlich?

Ich wohne 14 Minuten vom Militärhauptquartier und vom Flughafen entfernt, wo bisher die Hauptkämpfe stattfanden. Und 10 Minuten von einem Camp der Rapid Support Forces (RSF). Wir können das Kreuzfeuer und die Bomben aus der Luft hören und sehen, weil die Flugzeuge sehr nah über den Dächern fliegen. Ich bin mit meiner Schwester und meinem zweijährigen Neffen zuhause eingesperrt. Wir sind verängstigt und bleiben den ganzen Tag auf dem Boden in einem Korridor sitzen, um Schutz vor Angriffen und willkürlichen Bomben zu suchen. Uns gehen Lebensmittel und Trinkwasser aus. Seit drei Tagen gibt es keinen Strom und kein Wasser. Khartum ist eine Metropolregion mit mehr als fünf  Millionen Menschen, die größte Schwierigkeiten haben, sich selbst für Grundbedürfnisse mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen, da alle Bewegungen von Waren und Personen in der Stadt sehr riskant sind. Ich möchte gleichzeitig ganz klar sagen: Dieser Krieg jetzt findet zwischen dem Militär und den Rapid Support Forces statt. Er repräsentiert nicht den Willen des Volkes oder der Revolution. Es ist kein „Bürgerkrieg“.

Bevor der Krieg begann, hatten die bewaffneten und die zivilen Fraktionen viele Monate lang über eine neue politische Vereinbarung verhandelt, um eine zivil geführte Regierung zu bilden. Was denkst Du, wenn Du auf diesen Prozess zurückblickst?

Der Krieg ist aus diesen Verhandlungen hervorgegangen, die im Dezember 2022 zum „Rahmenabkommen“ führten. Sie waren von Anfang an falsch. Die Bedingungen, die die Forces for Freedom and Change (FFC) aushandelten, waren viel zu schwach. Es gab keine Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit. Wir als „Straße“ wurden nicht konsultiert und waren kein Teil der Verhandlungen. Wir alle haben das kommen sehen, genau wie den Putsch. Wir sind uns zu hundert Prozent sicher, dass dieser Krieg ein Ergebnis der Verhandlungen über das Rahmenabkommen ist. Jeder konnte diesen Krieg zwischen dem Militär und den RSF kommen sehen.

Die Widerstandskomitees, insbesondere die Jugend, führten seit Oktober 2021 kontinuierliche Straßenproteste gegen den Putsch durch. Was bedeutet der Kriegsbeginn für die Bewegung?

Natürlich ist der Krieg für die Bewegung sehr kritisch und betrifft uns alle. Aber er beeinflusst überhaupt nicht, was wir wollen. Wir waren in den Nachbarschaftskomitees sehr deutlich in unseren Forderungen, dass das Militär zurück in die Kaserne gehen und die RSF aufgelöst werden sollte. Der Krieg verpflichtet uns noch mehr zu unserer ersten Forderung, dass wir eine hundertprozentige Zivilherrschaft wollen.

Früher sagten uns die Leute, dass Menschen sterben, weil sie auf die Straße gehen. Nun sterben Menschen in ihren Häusern. Daher ist die Moral derzeit sehr hoch bei der Forderung nach Freiheit und ziviler Herrschaft. Wir warten auf einen Waffenstillstand, um uns wieder bewegen und Widerstand leisten zu können.

Wie möchtest Du als Aktivistin im Sudan, dass Europa mit dieser neuen Krise umgeht?

Wir erwarten, dass Europa aufhört, auf dieses Rahmenabkommen zu drängen und sich dafür einzusetzen. Die Verhandlungen mit dem Militär und der RSF sollten beendet werden. Dem Militär und den RSF sollte kein sicherer Ausweg angeboten werden. Wir erwarten, dass die gesamte internationale Gemeinschaft hinter der Gerechtigkeit steht. Gerechtigkeit für diejenigen, die in den vier Jahren der Forderung nach Zivilherrschaft und Demokratie ihr Leben verloren haben; für diejenigen, die nach dem Putsch getötet wurden; und für diejenigen, die seit Beginn dieses Krieges in ihren Häusern sterben.

Europa und die internationale Gemeinschaft haben unsere Warnung vor diesem bevorstehenden Krieg ignoriert. Gerade jetzt erwarten wir von Europa, dass es uns in unserer Forderung nach einer vollständig demokratischen und zivilen Herrschaft uneingeschränkt unterstützt.

Duaa Tariq ist Menschenrechtsverteidigerin und Künstlerin. Sie ist Mitbegründerin der Partnerorganisation der Böll-Stiftung „Colour Sudan“, einer Gruppe, die sich mit Kunst und Theateraufführungen für die Förderung der bürgerlichen und politischen Rechte im Sudan einsetzt. Tariq nahm 2019 an der friedlichen sudanesischen Revolution teil.

(Interview: Ulf Terlinden, Büroleiter Heinrich-Böll-Stiftung – Büro Horn von Afrika – Somalia/Somaliland, Sudan, Äthiopien)