Tunesien: Raus aus dem Ausnahmezustand, rein in die Diktatur?

Tunesien: Raus aus dem Ausnahmezustand, rein in die Diktatur?Der Alleingang des tunesischen Präsidenten zur neuen Verfassung – Neukonstruktion der politischen Landschaft: Nach einem Jahr Ausnahmezustand und Konzentration der alleinigen politischen Macht auf den tunesischen Staatspräsidenten Kais Saied veröffentlichte dieser am 30. Juni 2022 einen neuen Verfassungsentwurf. Die hierin vorgesehene Beschränkung des Parlaments und Ausdehnung der präsidialen Befugnisse wecken bei vielen in der Bevölkerung Befürchtungen vor einer erneuten Autokratie. Am 25. Juli 2022 soll ein Referendum über den Verfassungsentwurf und die Zukunft Tunesiens entscheiden.

In Reaktion auf die politische Blockade parlamentarischer Institutionen hatte der tunesische Präsident Kais Saied am 25. Juli 2021 die Entlassung des Regierungschefs Hichem Mechichi und die Aussetzung des tunesischen Parlaments verkündet. Obwohl der Großteil der Bevölkerung diesen Schritt zunächst begrüßte, um dem fehlgeleiteten parlamentarischen System zu entkommen, nimmt die Ernüchterung und Desillusionierung seither wieder zu. In Abweichung des für diese Entscheidung zugrunde gelegten Artikels 80 der bisherigen tunesischen Verfassung, der eine anschließende Wiederaufnahme der Arbeit politischer Institutionen vorgesehen hätte, hielt der Präsident den Ausnahmezustand auch in den Folgemonaten aufrecht.

Am 22. September 2021 setzte Saied per Präsidialdekret Nr. 117 zudem einen Großteil der tunesischen Verfassung außer Kraft, um weitere außerordentliche Maßnahmen zu legitimieren und neben der exekutiven auch die legislative Entscheidungsgewalt auf sich zu vereinen. Spätestens seit der im Februar 2022 vom Präsidenten veranlassten Auflösung und Neubesetzung des Obersten Justizrats (Conseil Supérieur de la Magistrature), das bisher als einziges Verfassungsorgan Tunesiens die Unabhängigkeit der Justiz sicherstellt, wird von der endgültigen Demontage der Gewaltenteilung zugunsten des Präsidenten gesprochen. Nach der vollständigen Annullierung der tunesischen Verfassung im Dezember 2021, die der Staatspräsident für die mehrdimensionale Krise des Landes verantwortlich machte, hatte er unter steigendem nationalem und internationalem Druck einen lang ersehnten Fahrplan zur Beendigung des politischen Ausnahmezustands vorgestellt.

Dieser sieht vor, auf Basis einer zwischen Januar und März 2022 stattgefundenen digitalen Volksbefragung eine neue Verfassung für ein Präsidialsystem zu erarbeiten. Am 25. Juli 2022 soll der bis dahin publizierte Verfassungsentwurf einem Volksreferendum unterzogen werden, gefolgt von Parlamentswahlen am 17. Dezember 2022. Aufgrund fehlender Transparenz hinsichtlich der Realisierung der genannten Meilensteine sowie einer mangelnden Einbindung politischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte stieß das Programm auf weitreichende, wenn auch vom Präsidenten wenig beachtete Kritik.

Ein neuer Verfassungsentwurf: Präsidiale Autorität und geschwächtes Parlament

Am 30. Juni 2022 wurde der neue Verfassungsentwurf per Präsidialdekret Nr. 578 in Tunesien veröffentlicht. Der Entwurf schreibt das vom Präsidenten ersehnte Präsidialsystem mit ihm an der Spitze der Macht fest. Die Befugnisse des Präsidenten werden weit ausgedehnt, während die Rolle von Parlament und politischen Parteien in den Hintergrund gerät. So wäre die Regierung fortan nicht mehr dem Parlament, sondern dem Präsidenten rechenschaftspflichtig. Auch die im Verfassungstext vorgestellte Installierung eines sogenannten „Rates der Regionen“ als zweite parlamentarische Kammer zur Dezentralisierung der politischen Macht schmälert die Befugnisse des Parlaments weiter. Während das Parlament durch den Präsidenten aufgelöst werden kann, sieht keine Klausel im Gegenzug die Absetzung des Präsidenten vor. Da überdies auch die Berufung und Entlassung von Ministerinnen und Ministern sowie Richterinnen und Richtern zukünftig in der Befugnis des Präsidenten läge, erlangt dieser sowohl auf die Exekutive als auch auf die Judikative entscheidenden Einfluss. Mit der Möglichkeit, eigens Gesetzesvorlagen oder staatliche Abkommen zu formulieren, werden dem Amt des Präsidenten auch weitreichende legislative Vorrechte übertragen.

Eine Umsetzung des veröffentlichten Verfassungstextes hätte nicht nur einen radikalen Bruch mit dem in der bisherigen Verfassung festgeschriebenen parlamentarischen System zur Folge, das in der Praxis zu ungelösten Machtkonflikten geführt hat. Im Verfassungsentwurf enthaltene vage Formulierungen und Auslegungsspielräume könnten auch schwerwiegende Eingriffe in die Rechte und Freiheiten der tunesischen Bevölkerung nach sich ziehen. Durch die präsidiale Machtausweitung und Verwässerung der staatlichen Gewaltenteilung bei zugleich bestehender Immunität des Präsidenten wird das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle politischer Institutionen außer Kraft gesetzt. Die Enthebung des Amtes des Präsidenten von Rechenschaftspflicht und Überprüfbarkeit durch andere politische Organe lässt die Wiederherstellung einer Alleinherrschaft, von der sich das Land nach der tunesischen Revolution im Jahr 2011 erst löste, als reale Bedrohung erscheinen. Statt die demokratische Transition Tunesiens weiter fortzuführen, könnte die Verabschiedung des Verfassungsentwurfes somit die Grundwerte einer Demokratie erschüttern.

Selbst Sadok Belaid, der im Mai zum Leiter der Beratungskommission für die Ausarbeitung der neuen Verfassung ernannt wurde und dem Präsidenten am 20. Juni 2022 eine Verfassungsvorlage übergeben hatte, distanziert sich vom finalen Entwurf. Staatspräsident Kais Saied habe die Ergebnisse der Konsultationen und Vorschläge der Kommission nicht berücksichtigt und stattdessen einen Verfassungstext nach seinen persönlichen Vorstellungen formuliert. Belaid bezeichnet den „gefährlichen“ Entwurf daher als Grundlage, um eine „endlose Diktatur zugunsten des derzeitigen Präsidenten“ zu schaffen.

Es verfestigt sich somit der Eindruck, dass der Verfassungsentwurf ein auf den Präsidenten Kais Saied persönlich zugeschnittenes Regelwerk darstellt. Ob der Text eine geeignete Grundlage für die Bewältigung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen des Landes ist, ist zu bezweifeln. Aus diesem Grund lehnt ein großer Teil der Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft den Verfassungsentwurf ab und ruft zur Rückkehr zu einem partizipativen Dialog auf. In einer Gegenreaktion modifizierte der Präsident in der Nacht vom 08. auf den 09. Juli 2022 nachträglich und unangekündigt erneut ausgewählte Verfassungsartikel, vermutlich um die Chancen für eine Volksabstimmung zugunsten seines präsentierten Entwurfes zu erhöhen. Diese als illegitim bewertete Handlung, die die vom Präsidenten eigens festgelegten Vorgaben und Fristen missachtet, bekräftigt einmal mehr die Eigenmächtigkeit des tunesischen Präsidenten.

Die Zukunft Tunesiens in wessen Händen?

Am 25. Juli 2022, dem Tag der tunesischen Republik und genau ein Jahr nach der Ausrufung des Ausnahmezustands, soll der Verfassungsentwurf einem Referendum unterzogen werden. Bei einer Entscheidung für den Entwurf würde dieser noch am Tag der Bekanntgabe des Wahlergebnisses in Kraft treten, ohne weitere politische Institutionen durchlaufen zu müssen. Der Fahrplan des Präsidenten sieht indessen kein alternatives Verfahren im Falle eines Mehrheitsvotums gegen den von ihm vorgelegten Verfassungsentwurf vor. Dies unterstreicht den Verdacht, dass der Präsident das Ergebnis der Abstimmung nur dann anerkennen wird, wenn es in seinem Sinne ausfällt. Somit bleibt für die tunesische Bevölkerung fraglich, ob ihre Beteiligung am Referendum überhaupt eine Wirkung entfaltet. Kann die Zukunft Tunesiens vom Volk bestimmt werden oder liegt sie bereits in den Händen des Staatspräsidenten Kais Saied? (Autorin: Aline-Victoria Grassl für das Büro Tunesien & Libyen der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit)