*Volker Seitz: Tabus – Warum in Afrika wirklich gehungert wird

*Volker Seitz: Tabus - Warum in Afrika wirklich gehungert wird
Die Leistungsfähigkeit der Kleinbauern muss gestärkt werden

Weder der Klimawandel noch bewaffnete Konflikte spielen die größte Rolle bei der Hungerproblematik in Afrika. Die Ursachen von Hungersnöten sind selten naturbedingt, sondern in der Regel menschengemacht – dazu gehört auch das Bevölkerungswachstum.

Die private Nichtregierungsorganisation „Welthungerhilfe“ wurde 1962 gegründet. Sie hat Projekte in 70 Ländern mit 5,07 Milliarden Euro gefördert. In Berlin wurde am 10. Oktober 2024 ihr aktueller Welthunger-Index (WHI) vorgestellt. Nach Einschätzung der Organisation hat sich die Ernährungssituation in Afrika teilweise verschlechtert oder kaum verbessert. Dabei gebe es einen Zusammenhang zwischen fehlender Geschlechtergerechtigkeit, Ernährungssicherheit, bewaffneten Konflikten und den Folgen des Klimawandels.

Die wichtigste Ursache für Hunger wird auch von der Welthungerhilfe nicht genannt. Der Klimawandel und bewaffnete Konflikte sind schlicht zweitrangig gegenüber dem Wachstum der Bevölkerung. Nur eine rasche Senkung des Bevölkerungswachstums wird in vielen Ländern Afrikas die Zunahme des Hungers verhindern.

Hunger und der Zusammenhang mit Familienplanung beschäftigt mich schon seit vielen Jahren. In Afrika verschärft der rasche Zuwachs an Einwohnern den Hunger und verhindert in vielen Staaten den Aufschwung. Afrika erhält mehr Entwicklungshilfe als jeder andere Kontinent, aber das hat die Armut nicht entscheidend lindern können. Ich konnte dies leider in allen Ländern, in denen ich in 17 Jahren Afrika gearbeitet habe, erkennen.

Man handelt sich rasch den Vorwurf des Rassismus ein
Anderen Menschen zu helfen – oder zumindest zu glauben, dass man es tut –, ist ein vermutlich altes, allzu menschliches Bedürfnis (besonders) in Deutschland. Es wird ein gutes Gefühl erzeugt, weil man vermeintlich die Notleidenden bedacht hat. Die gute Absicht zählt. Aber fremde Hilfe hat in Afrika weder soziale Grundprobleme gelöst noch den bescheidenen Massenwohlstand effektiv gesteigert. Helfer sollten sich fragen, ob sie nicht bisher mitwirkten, dass der Kontinent ein Bittsteller bleibt. Die unbequeme Frage, ob die Hilfe auch schaden kann, wird selten gestellt.

Um die Frage, ob die aktive Begrenzung der Zahl der Menschen, die Afrika bevölkern, die Armut auf dem Kontinent und die Migration eindämmen könnte, wird bei uns ein großer Bogen gemacht. Die deutsche Entwicklungshilfe weigert sich, ihre Gelder an selbstbestimmte Familienplanung und Müttergesundheit zu koppeln. Es ist ein heikles Thema, bei dem man sich rasch den Vorwurf des Rassismus einhandelt. Aber wer möchte, dass Afrika seine Menschen irgendwann selbst ernähren und in Lohn und Arbeit bringen kann, der sollte auch helfen, die dortigen Geburtenraten zu senken. Es wächst nämlich eine Generation heran, die wenig Aussicht darauf hat, dass das Land, in dem sie geboren wurden, sie einmal wird ernähren können.

Hohe Geburtenraten führen in Afrika zu immer mehr Arbeitslosigkeit. Kinderreichtum wird von afrikanischen Traditionalisten als fester Bestandteil der Kultur gepriesen. Junge Frauen ohne Schulausbildung und ohne Job wissen es auch nicht besser. Die rasanten Bevölkerungszuwächse werden von vielen autoritären Herrschaftssystemen in Afrika weitgehend ausgeblendet – und Entwicklungshilfeorganisationen schweigen. Das Nichtstun afrikanischer Regierungen schafft erst das Hungerproblem, zu dessen Lösung sie die Weltgemeinschaft auffordern, obwohl sie die einzige Macht sind, die in der Lage wäre, das Problem dauerhaft zu lösen. Es gibt vielerorts in Afrika – gerade unter Staatschefs – die Tendenz, die Weißen für alle Übel des Kontinents verantwortlich zu machen und sich aus der Verantwortung zu stehlen“, stellte schon der langjährige Afrikakorrespondent der NZZ David Signer fest.

Importe aus Europa, China oder den USA keine Lösung
Ethnische Zugehörigkeiten prägen die Gesellschaften großer Teile Afrikas. Da viele afrikanische Politiker auf ethnische Polarisierung setzen, haben sie keine Vorstellung von Gemeinwohl. Es wird nicht in das öffentliche Schul- und Gesundheitswesen, Familienplanung und Landwirtschaft investiert. Länder wie Kenia, Uganda oder Südsudan geben mehr Geld für Waffen als für die Ernährung ihrer eigenen Bevölkerung aus. Wer die Armut und den Hunger bekämpfen will, muss die Landwirtschaft fördern, insbesondere die Leistungsfähigkeit der Kleinbauern stärken. Es macht keinen Sinn, Lebensmittel zu importieren, die es selbst in dem Land gibt. 60 Prozent der potenziell landwirtschaftlich nutzbaren Fläche weltweit liegen laut Weltbank in Afrika. Obwohl es noch große Reserven an erschließbaren Agrarflächen gibt (in Afrika befinden sich 27 Prozent aller fruchtbaren Böden der Erde), führen afrikanische Staaten jährlich Lebensmittel im Wert von etwa 50 Milliarden US-Dollar ein. Drei Viertel der Lebensmittel müssen importiert werden.

Die Ursachen von Hungersnöten sind in der Regel menschengemacht und selten naturbedingt. Von den Reserven an Ackerfläche werden derzeit nur 20 Prozent überhaupt genutzt. Die Landwirtschaft muss deutlich leistungsfähiger werden. Afrikas Eliten müssen den Kampf gegen den Hunger wirklich ernst nehmen. Selbst in fruchtbaren Ländern wie Mosambik oder Sambia dienen kaum mehr 20 Prozent des Landes der Landwirtschaft. Zudem ist sie äußerst ineffizient. Die Kleinbauern produzieren meist nur für den Eigenbedarf. Wenn sie ihre wachsende Bevölkerung ernähren wollen, müssen sie die Landwirtschaft mit modernen Maschinen, Dünge- und Pflanzenschutzmitteln produktiver betreiben. Statt synthetischer Düngemittel (hergestellt unter anderem aus Erdöl), die die Bodenfruchtbarkeit zerstören, sollten Verfahren gefördert werden, die den Aufbau von Humus im Boden steigern (Kompostierung; tierische Dünger).

Importe aus Europa, China oder den USA sind langfristig bestimmt keine Lösung des Ernährungsproblems. Die Investitionen in die ländliche Entwicklung mit Bildung und Fortbildung, Landwirtschaft, Gesundheit und Familienplanung müssen deutlich steigen. Agronomen sind skeptisch, ob sich die Nahrungsmittelproduktion in gleichem Maße   steigern lässt, wie die Bevölkerung wächst. Bei fünf bis sieben Kindern pro Frau ist es schwierig, aus der Armutsspirale herauszufinden. Die Lösung kann nur bessere Bildung sein. Der Zusammenhang zwischen der Bildung von Frauen und dem für Afrika so wichtigen Rückgang der hohen Geburtenraten ist hinreichend belegt.

Die Produktivität der Kleinbauern ist in Afrika sehr niedrig
In nur wenigen Ländern wird die Landwirtschaft gefördert. Die angolanische Volkswirtschaft ist z.B. in allen Bereichen auf Importe angewiesen. Darunter Grundnahrungsmittel wie Reis, Eier, Gemüse (Knoblauch, Zwiebeln, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Tomaten, Kohl, Mais und Maniok) und sogar Früchte (Mango, Bananen und Ananas).

Noch heute müssen vier von fünf Afrikanern Agrarwirtschaft betreiben, um ihre Familien ernähren zu können. Die Produktivität der Kleinbauern ist in Afrika sehr niedrig. Es fehlt an hochwertigem Saatgut, zureichender Düngung, Bewässerungssystemen, Mechanisierung und Maschinenreparatur, landwirtschaftlichen Ausbildungssystemen, Kooperation unter den Bauern, an Speichern, Anbautechniken, einer Infrastruktur wie ganzjährig befahrbare Pisten, einer funktionierenden Distribution. Dreißig Prozent des Getreides, Obstes und Gemüses verrotten auf dem Weg vom Acker zur Ladentheke. Ursache der Nachernteverluste sind unsachgemäße Lagerung, Vernachlässigung der Hygienestandards, Feuchtigkeit und Schädlingsbefall. Oft fehlt es an den politischen Rahmenbedingungen, die den Bauern Schutz der Wasser- und Landnutzungsrechte garantieren. In Ländern wie Äthiopien ist kein privater Landbesitz erlaubt, mithin kann kein Bauer seinen Besitz beleihen, um Kredite aufzunehmen und zu investieren.

Durch verbesserte Anbaumethoden und Schutz vor Erosion und Versalzung könnten die Erträge leicht verdoppelt werden. In 50 Jahren sind in Afrika 6,3 Millionen Hektar fruchtbares Ackerland verlorengegangen. Das ist eine Fläche etwa so groß wie Bayern. Die natürliche Bodenfruchtbarkeit geht durch Versiegelung des Bodens (wachsende Städte), synthetische Düngemittel, Versalzung und falsche Bearbeitungstechniken (pflügende Landwirtschaft führt zwangsläufig zu Humusabbau). Vom Humus hängt die Fruchtbarkeit der Böden ab. Er bindet Kohlenstoff und produziert keine Treibhausgase. Der schleichende Verlust der Bodenfruchtbarkeit könnte etwa durch die Terra Preta Technologie (schwarze Erde) – ein Konzept der Indios, das wiederentdeckt wurde und zum Beispiel von der Technischen Universität Hamburg weiter entwickelt wird – aufgehalten werden.

Alle Afrikaner, die ich kenne, nervt es, wenn alle sie retten wollen.

Die Landbevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft und Viehzucht, wobei die Ernährung der eigenen Familie im Mittelpunkt steht. So müssen 90 Prozent der im Senegal verbrauchten Milch in Form von Milchpulver eingeführt werden, obwohl 30 Prozent der Bevölkerung von der Tierzucht leben. Hühnerfleisch und Eier sind preiswert und reich an Protein. Die Aufzucht ist relativ problemlos. Dennoch importiert der Kontinent jährlich mehrere tausend Tonnen Geflügel. Der Bedarf des Kontinents an Nahrungsmitteln kann so nicht gedeckt werden. Nötig wäre der Aufbau einer ländlichen Industrie, um den Bauern Einkommensmöglichkeiten zu schaffen.

Die afrikanischen Eliten müssen sich den Fatalismus abgewöhnen. Sie müssen ihr Schicksal nicht auf Gott oder das Wetter schieben, sondern eigene Anstrengungen unternehmen und lernbereit sein. So sind die Somalier wohl das einzige Küstenvolk, das keinen Fisch mag. Dabei könnte der – reichlich vorhandene – Fisch, der von den Nomaden kulturell nicht akzeptiert wird, die größten Ernährungsprobleme der hungernden Bevölkerung lösen.

Es ist bald wieder Weihnachten. Es wird zahlreiche Spendenaufrufe geben. „Spende“ – das ist immer noch synonym mit „Afrika“. Dabei wird dann der Eindruck erweckt, ohne Hilfe würde der Kontinent untergehen. Es wird das Image Afrikas verfestigt, dass Afrikaner unfähig seien, sich selbst zu helfen. Der „White Savior Complex“ (Teju Cole) macht die Afrikaner zu ewigen Opfern. Die jungen Wohltäter würden – so Teju Cole – die Vorstellung vom afrikanischen Kontinent als einem Ort nie endender Sorgen bestärken. Die Geber stehen Schlange, sie legen keinen Wert darauf, dass Regierungen eigene Lösungen erarbeiten. Alle Afrikaner, die ich kenne, nervt es, wenn alle sie retten wollen.

Hilfen sollten nur noch als Nothilfe im Falle etwa von Naturkatastrophen, die außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen, gegeben werden. Mittelfristig sollte Unterstützung an Familienplanung, Bildung, Ausbildung, Aufbau eines gerechten Steuersystems (viele Reiche in Afrika zahlen keine Steuern), an Kleinkrediten und Erwerbsmöglichkeiten der Basis gebunden werden. ( Quelle: achgut.com, mit freundlicher Genehmigung des Autors *Volker Seitz, Botschafter a.D. und Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, dtv, 2021 (11. aktualisierte Auflage)