
Trotz eines scheinbaren Rückgangs der Anträge im Jahr 2024 bleibt die Verheiratung Minderjähriger in mehreren Regionen Marokkos bestehen – angetrieben von sozialer Not, patriarchalen Traditionen und politischer Untätigkeit.
Laut dem Jahresbericht 2024 des Obersten Rates der Justiz (CSPJ) wurden in Marokko 16.755 Anträge auf Eheschließung Minderjähriger registriert – ein Rückgang um 17 % im Vergleich zum Vorjahr. Auch wenn dieser Trend auf den ersten Blick ermutigend erscheint, darf er eine beunruhigende Realität nicht verdecken: Das Phänomen bleibt tief verwurzelt, insbesondere in ländlichen Gebieten, wo die Rechte junger Mädchen oft zweitrangig sind.
Ländliche Gebiete und Frühehen: eine alarmierende Verbindung
Am auffälligsten ist, dass 78 % der Anträge aus ländlichen Regionen stammen – ein deutlicher Ausdruck der territorialen und sozioökonomischen Kluft. In diesen Gegenden gilt die frühe Heirat nicht nur als Tradition, sondern oft auch als Lösung für Armut, Schulabbrüche und fehlende Perspektiven. Die 13.091 Anträge aus ländlichen Gebieten stehen in scharfem Kontrast zu den 3.664 Anträgen in Städten. Dieses Ungleichgewicht zeigt, dass junge Mädchen auf dem Land doppelt benachteiligt sind: Einerseits leiden sie unter Armut und mangelnder Bildung, andererseits stehen sie unter starkem sozialem Druck, früh zu heiraten. Zwar liegt das gesetzliche Heiratsalter in Marokko bei 18 Jahren, doch Richter dürfen Ausnahmen genehmigen – und tun dies häufig: Laut CSPJ wurden rund zwei Drittel der Anträge auf Minderjährigen-Ehen von Gerichten bewilligt. Diese Zahlen verdeutlichen, dass das Justizsystem bislang nicht in der Lage ist, das Kindeswohl gegen tief verwurzelte gesellschaftliche Normen durchzusetzen.
Das typische Profil: Schulabbrecherinnen und arbeitslose Mädchen
Der Bericht von 2024 zeichnet ein alarmierendes sozioökonomisches Profil der betroffenen Jugendlichen: 96 % der minderjährigen Antragstellerinnen arbeiten nicht, und 92 % haben die Schule abgebrochen. Für viele Familien wird die Heirat so zu einer „Überlebensstrategie“, die finanzielle Stabilität oder zumindest eine Entlastung der familiären Armut verspricht. Kinderrechtsorganisationen sprechen daher von „Überlebensehen“, die meist erzwungen und selten freiwillig sind. Das Einverständnis der Mädchen ist oft zweifelhaft – beeinflusst von familiärem Druck und fehlenden Alternativen.
Auch Jungen betroffen – aber nur am Rande
Eine Neuerung im Jahr 2024: Die Zahl der Anträge für minderjährige Jungen stieg um 33,6 % auf 254 Fälle. Trotz dieses relativen Anstiegs machen sie nur 1,5 % aller Anträge aus. Das Phänomen bleibt also weitgehend auf Mädchen beschränkt. Die meisten Betroffenen sind 17 Jahre oder älter (65,5 %), mit einer Bewilligungsrate von 70,5 %. In jüngeren Altersgruppen sinken die Zahlen, aber die Sorge wächst: 5.079 Anträge bei 16–17-Jährigen, 633 bei 15–16-Jährigen, 59 bei unter 15-Jährigen – davon eine einzige Genehmigung durch den Richter. Trotz des allgemeinen Rückgangs machen Kinderehen noch immer 6,4 % aller 259.212 Eheschließungen in Marokko im Jahr 2024 aus. (Quelle: afrik.com)