Marokko: Imane – Das gezeichnete Gesicht einer Gesellschaft

Marokko: Imane – Das gezeichnete Gesicht einer Gesellschaft
Symbolbild

Das Schicksal von Imane ist ein brutaler Weckruf: Geschlechtsspezifische Gewalt ist noch lange nicht überwunden. Ein entstelltes Gesicht, ein zerstörtes Leben, ein vierjähriges Kind, das seine Mutter nicht mehr erkennt. Seit der grausamen Attacke ihres Ex-Mannes überschlagen sich die Reaktionen in sozialen Netzwerken, und das Thema dringt bis in private Gespräche vor, berichtet Le Matin. Neben der Forderung nach Gerechtigkeit und einer harten Strafe für den Täter muss dieser Fall vor allem eines deutlich machen: Die bestehenden Schutzmechanismen für Frauen reichen noch immer nicht aus – trotz juristischer Fortschritte und vieler Bemühungen, geschlechtsspezifische Gewalt einzudämmen. Imanes entstelltes Gesicht ist zugleich das Spiegelbild einer Gesellschaft, in der Frauen weiterhin nicht sicher sind.

Sie hat überlebt, aber die Narben werden sie ein Leben lang begleiten – äußerlich wie innerlich. Seit einigen Tagen geht das Bild der 25-jährigen Imane durch die sozialen Netzwerke: Ihr Gesicht, von 130 Stichen gezeichnet, erzählt von einer unfassbaren Brutalität. Laut ihren Aussagen wurde sie von ihrem Ex-Mann mit einer Klinge angegriffen – ein Ausbruch reiner, hemmungsloser Gewalt. Doch noch tiefer als ihre physischen Wunden ist der seelische Schmerz. Ihr Peiniger hat sie nicht nur entstellt, sondern ihr Leben und das ihres kleinen Sohnes zerbrochen.

„Lieber sehe ich diese Narben im Spiegel, als ihn jemals wiederzusehen“, sagt Imane, heute 26 Jahre alt. Sie nennt ihren Ex-Mann nicht nur ihren Angreifer, sondern auch ihren Vergewaltiger. Sie berichtet, dass er sie mit einer Waffe attackierte, bis sie notoperiert werden musste. Jetzt wünscht sie sich nur eines: ein Gesicht, das ihr Sohn ansehen kann, ohne sich zu fürchten. Doch ihr Schicksal wirft eine brennende Frage auf: Wie lange müssen Frauen in Marokko noch warten, bis sie wirklich geschützt sind? Die Fotos ihres vernarbten Gesichts haben landesweit eine Welle der Empörung ausgelöst. Unter dem Hashtag #Koulouna_Imane („Wir sind alle Imane“) fordern Menschen Gerechtigkeit, Schutz und sogar Gesetzesreformen. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben juristische, psychologische und soziale Hilfe organisiert und verlangen harte Strafen für den Täter. Die Ermittlungen laufen – doch dieser Fall zeigt: Es geht um mehr als einen Einzelfall.

Institutionalisierte Gewalt – ein Systemversagen
Imanes Leid begann nicht erst am Tag des Angriffs. Sie wurde nach eigenen Angaben von diesem Mann vergewaltigt und anschließend gezwungen, ihn zu heiraten – nicht aus Liebe, sondern aus bürokratischer Notwendigkeit, um ihr Kind anerkennen zu lassen. Ein erzwungener „Ehefrieden“, den Aktivistinnen als „doppelte Strafe“ bezeichnen: den eigenen Vergewaltiger heiraten zu müssen, um gesetzlich zu existieren. Jahre der häuslichen Gewalt und Erniedrigung folgten, bis sie schließlich die Scheidung erreichte. Doch selbst danach war sie nicht in Sicherheit: Sechs Monate später griff er sie erneut an – diesmal mit einer Grausamkeit, die sie fast das Leben kostete.

Ein strukturelles Problem
„Dieser Fall ist nur die Spitze des Eisbergs“, betont Bouchra Abdou, Leiterin der Organisation Tahadi für Gleichheit und Bürgersinn. „Die meisten betroffenen Frauen leiden schweigend.“ Körperliche, sexuelle, psychische, wirtschaftliche und sogar digitale Gewalt – all das wird von der marokkanischen Gesetzgebung zwar geahndet, seit 2018 durch das Gesetz 103-13. Doch der Unterschied zwischen Gesetzestext und Realität sei eklatant, so Abdou. Schutzmaßnahmen seien unzureichend, oft gar nicht vorhanden, und Betroffene würden sich allein gelassen fühlen. Für Abdou ist klar: Das Gesetz muss dringend nachgebessert werden.

Psychologische Hilfe – eine vergessene Notwendigkeit
Neben der Strafverfolgung müsse vor allem das psychische Wohl der Opfer im Zentrum stehen. „Imane braucht sofortige, kontinuierliche Betreuung – sonst kann sie leicht in suizidale Gedanken abrutschen.“ Tatsächlich hat sie öffentlich erklärt: „Ich habe daran gedacht, mir das Leben zu nehmen. Lieber hätte er mich getötet, als mich so zu entstellen.“ Abdou kritisiert außerdem, dass Frauenhäuser Betroffene meist nur 72 Stunden aufnehmen. Danach müssen sie oft in die gleichen Verhältnisse zurück, in denen sie misshandelt wurden – eine Zumutung.

Das unsichtbare Opfer: ihr Kind
Neben Imane leidet auch ihr vierjähriger Sohn. „Er erkennt mich nicht mehr“, sagt sie leise. Ohne psychologische Betreuung drohen ihm langfristige Schäden. Fachleute warnen: Kinder, die Gewalt miterleben, sind keine bloßen Zeugen – sie sind Opfer. Ihre psychische Entwicklung kann massiv gestört werden, und ohne Unterstützung tragen sie diese Traumata oft ein Leben lang mit sich.

Eine Botschaft an andere Frauen
Trotz allem richtet Imane einen dringenden Appell an junge Frauen: „Vertraut keinem Mann, der Drogen nimmt oder kein Zuhause gründen kann. Schaut, was aus mir geworden ist!“ Ihre Geschichte ist auch die Geschichte vieler Teenagerinnen, die sich in Männer verlieben, die sie später zerstören. „Die Warnsignale werden ignoriert, die Gesellschaft schaut weg, die Familie schweigt, die Schule sensibilisiert nicht“, klagt Abdou.

Imanes Schicksal ist ein Weckruf. Es steht für all jene Frauen, die trotz Gesetzen und Fortschritten immer noch schutzlos sind. Ihr Gesicht ist das entstellte Spiegelbild einer Gesellschaft, die es bisher nicht geschafft hat, Frauen ein Leben in Sicherheit zu garantieren.