Affäre Le Monde–Mohammed VI: Die Serie löst einen diplomatischen Sturm zwischen Frankreich und Marokko aus

Affäre Le Monde–Mohammed VI: Die Serie löst einen diplomatischen Sturm zwischen Frankreich und Marokko aus
Illustration, KI-generiert. Kein echtes Foto

Vom 24. bis 29. August 2025 veröffentlichte die französische Tageszeitung Le Monde eine sechsteilige Investigativserie mit dem Titel „Das Rätsel Mohammed VI.“. Die von den Journalisten Christophe Ayad und Frédéric Bobin unterzeichnete ambitionierte Recherche hatte den Anspruch, die Machtstrukturen des marokkanischen Königs nach 26 Jahren Herrschaft zu durchleuchten. Die Reaktion des Königreichs fiel beispiellos heftig aus und offenbarte tiefe Spannungen zwischen zwei Auffassungen von Journalismus und Macht.

Der Fall erinnert unweigerlich an das Erdbeben, das 1990 durch die Veröffentlichung von Gilles Perraults Buch „Unser Freund, der König“ ausgelöst wurde – eine Veröffentlichung, die die Beziehungen zwischen Frankreich und Marokko unter Hassan II. jahrelang einfrieren ließ.

Ein Auftakt mit Wucht
Schon die erste Folge schlug ein wie eine Bombe: „In Marokko, Endzeitstimmung für Mohammed VI.“. Die Reporter zeichneten das Bild eines gesundheitlich angeschlagenen Monarchen, dessen unregelmäßige öffentliche Auftritte Spekulationen befeuerten. Das Bild vom 7. Juni 2025 – der König beim Opferfestgebet in Tétouan, „geschwächt, auf einem Hocker sitzend, unfähig, sich niederzuwerfen“ – stand im krassen Gegensatz zu der Aufnahme, die zwei Wochen später verbreitet wurde: derselbe König, dynamisch, auf einem Jet-Ski. Diese „doppelte Choreographie“, so Le Monde, zeige die verzweifelten Versuche des Palastes, den tatsächlichen Zustand des Herrschers zu verschleiern.

Die Schattenzonen der Herrschaft
Die weiteren Episoden gingen methodisch an die Tabus der marokkanischen Monarchie heran:

  • Abwesenheiten des Königs: Lange Auslandsaufenthalte hinterließen „den Eindruck einer Leere“, besonders bei der verheerenden Erdbebenkatastrophe im September 2023 mit fast 3.000 Toten. Die Abwesenheit des Monarchen während dieser nationalen Tragödie prägte das kollektive Gedächtnis.
  • Einfluss der Azaitar-Brüder: Die aus den Mixed Martial Arts bekannten Brüder, seit 2018 im königlichen Umfeld, sollen sich privilegierten Zugang verschafft haben – bis hin zur Kontrolle über die Gesprächspartner des Königs. Marokkanische Medien warnten selbst vor einem „Rasputin-Risiko“.
  • Ein undurchsichtiges System: In Folge fünf, „Mohammed VI., der Makhzen und die Palastgeheimnisse“, beschreibt Le Monde ein archaisches Herrschaftssystem aus Gunst und Ungnade, dominiert von einem Dreierzirkel: Fouad Ali El Himma („der Vizekönig“), Yassine Mansouri (Chef des Auslandsgeheimdienstes) und Mounir Majidi, Verwalter des königlichen Vermögens mit einem Monatsgehalt von 120.000 Euro – im Kontrast zu durchschnittlich 380 Euro im Land.
  • Die Nachfolge: Kronprinz Moulay El Hassan, 22 Jahre alt, tritt zunehmend ins Rampenlicht – Empfang des chinesischen Präsidenten Xi Jinping Ende 2024, Ernennung zum Generalmajor. Alles Zeichen einer sorgfältig orchestrierten Machterweiterung, die zugleich die Dringlichkeit der Lage verdeutlichen.

Lalla Salma: die „große Ungenannte“
Le Monde erwähnt Lalla Salma zwar, jedoch nur oberflächlich. Ihre historische Rolle – 2002 beim Filmfestival von Marrakesch, als erstmals eine Frau offiziell an der Seite des Königs erschien – wird gestreift. 2018 „aus dem Spiel genommen“, wurde sie im April 2025 „in Rabat empfangen, um familiäre Spannungen zu entschärfen“.

Brisant ist die Prognose des Blattes: Lalla Salma, die „große Ungenannte der laufenden Transition“, werde „notwendigerweise wieder rehabilitiert werden, sobald ihr Sohn den Thron besteigt“. Denn sie stehe dem Kronprinzen, der mit ihr in Rabat lebe, sehr nahe. Ein möglicher „Racheakt“ des künftigen Königs gegen die Gegner seiner Mutter wäre denkbar – ähnlich wie Mohammed VI. nach 1999 die Getreuen von Hassan II. entmachtete.

Eine begrenzte Analyse
Doch vieles bleibt ausgeklammert. Die Scheidung von 2018 – 2019 vom damaligen französischen Star-Anwalt Éric Dupond-Moretti bestätigt – war ein Wendepunkt in der königlichen Öffentlichkeitsarbeit. Dass gerade ein französischer Anwalt die Bezeichnung „Ex-Ehefrau“ einführte, um Gerüchte über eine angebliche Gefangenschaft zu entkräften, zeigte bereits die Anfälligkeit der marokkanischen Kommunikation gegenüber internationalen Medien. Noch auffälliger ist die journalistische Zurückhaltung beim Privatleben des Königs nach der Trennung – in einer Monarchie, in der dynastische Kontinuität und religiöse Legitimität zentral sind.

Marokkos scharfe Gegenoffensive
Schon am 27. August veröffentlichte der nationale Medienverband (ANME) ein Kommuniqué voller Gift und Galle: Die Artikel seien „Lügenmärchen“ und „Ansammlungen von Klatsch“, „sämtliche Fakten und Anekdoten frei erfunden“. Bemerkenswert: Der Königspalast selbst schweigt offiziell. Kein Statement, keine Reaktion – eine Strategie, die Kritik als bloße „Gerüchte“ abtut und vermeidet, ihnen durch eine offizielle Antwort Gewicht zu verleihen.

Mobilisierung der Intellektuellen
Die marokkanische Presse bildet eine geschlossene Verteidigung:

Hespress argumentiert, Le Monde wende eine „westliche Lesebrille“ an und missverstehe religiöse und kulturelle Kontexte.

Le360, dem Umfeld des Premierministers Aziz Akhannouch nahestehend, verweist auf die Großprojekte des Königs – Hafen Tanger Med, Hochgeschwindigkeitszug Al Boraq, Solarkomplex Noor Ouarzazate – und wirft Frankreich „bewusste Blindheit“ vor.

Echo der Vergangenheit: Unser Freund, der König
Die Affäre erinnert an 1990, als Gilles Perraults Buch Hassan II. in die Defensive zwang. Damals reagierte der König mit Prozessen und Zensurversuchen, die jedoch scheiterten und paradoxerweise zu Reformen führten. Mohammed VI. dagegen setzt auf eine moderne Kommunikationsstrategie: keine Prozesse, keine Verbote, sondern Gegenkampagnen in Medien und sozialen Netzwerken.

Frankreichs Doppelrolle
Seit der Unabhängigkeit schwanken die französisch-marokkanischen Beziehungen zwischen Nähe und Kritik. Jede französische Enthüllung wirkt in Rabat wie ein Verrat durch einen „privilegierten Partner“. Brisant: Die Le Monde-Serie blendet zentrale Themen wie das Sahara-Western-Dossier und die königliche Vermögensfrage weitgehend aus – ein Schweigen, das Beobachter kritisieren.

Ein verletzliches Regime
Die Heftigkeit der Reaktion legt die Verletzbarkeit der Monarchie offen: Ein selbstbewusstes Regime müsste keine sechs Artikel einer Zeitung fürchten. Doch im Zeitalter sozialer Netzwerke, wachsender Zivilgesellschaft und jugendlicher Unzufriedenheit wird internationale Kritik im Inneren verstärkt wahrgenommen.

Das eigentliche Rätsel
Am Ende bleibt Mohammed VI. tatsächlich ein „Rätsel“ – weniger wegen seines Gesundheitszustandes, sondern wegen seiner Fähigkeit, ein absolutistisches Monarchiesystem im 21. Jahrhundert aufrechtzuerhalten.

Wie lässt sich das Bild des modernen, sportbegeisterten Königs mit dem des „Befehlshabers der Gläubigen“ vereinbaren? Wie gelingt die Thronübergabe in einer unruhigen Region? Wie der Spagat zwischen wirtschaftlicher Öffnung und politischer Geschlossenheit?

Die Affäre zeigt: Le Monde bleibt ein Störenfried in den französisch-marokkanischen Beziehungen. Für Rabat aber ist sie ein schmerzlicher Beweis dafür, wie sehr das internationale Image von Stimmen abhängt, die das Königreich nicht kontrolliert.

Und das Rätsel bleibt bestehen – vielleicht gerade darin liegt der größte Triumph Mohammeds VI.: im 21. Jahrhundert und trotz aller Transparenzansprüche ein unfassbarer König zu bleiben (Quelle: afrik.com)