
Das 230 Millionen-Land Nigeria ächzt unter einer prekären Sicherheitslage – ein weiterer Bürgerkrieg würde beispiellose Migrationsströme nach Europa auslösen. Unsicherheit zählt seit den letzten Jahren zu den drängendsten Herausforderungen für Nigerianer aller Schichten und Regionen. In verschiedenen Regionen des Landes bedrohen Bandenkriminalität, Entführungen, Aufstände, ethnische Gewalt, islamischer Terror und bewaffnete Raubüberfälle weiterhin Menschenleben und untergraben die nationale Stabilität.
Diese Sicherheitsprobleme haben nicht nur den Glauben in die öffentliche Sicherheit geschwächt, sondern auch das Wirtschaftswachstum gebremst und die soziale Entwicklung beeinträchtigt, indem sie darüber hinaus das Vertrauen in- und ausländischer Investoren erschüttert haben.
Einer der Hauptgründe für die ausufernde Gewalt und Unsicherheit in Nigeria ist die weit verbreitete Arbeitslosigkeit und Armut. Da dies für viele als die einzige Möglichkeit angesehen wird, Einkommen zu erzielen, treibt dies Jugendliche notgedrungen in die Kriminalität. Schwache Sicherheitsstrukturen, mangelhafte Strafverfolgung, weit verbreitete Korruption und Stammesdenken haben in Verbindung mit begrenzter nachrichtendienstlicher Aufklärung die Fähigkeit der Bundesbehörden zur Verbrechensbekämpfung weiter eingeschränkt. Hinzu kommen die Verbreitung illegaler Waffen, durchlässige Grenzen und Korruption, welche die eh schon fragile Sicherheitslage zusätzlich verschärfen.
Die nigerianische Regierung unter Ex-Präsident Buhari warnte bereits Ende 2022 davor, dass Waffenlieferungen westlicher Verbündeter an die Ukraine ihren Weg in Länder südlich der Sahara wie den Tschad gefunden haben und dort in den Händen extremistischer Gruppen gefunden wurden. Leider wurden seine Warnungen in westlicher Presse weitgehend ignoriert.
Präsident Tinubu bereiste In einem überraschenden Schritt die drei Bundesstaaten Borno, Bauchi und Lagos, um die Gouverneure auf eine gemeinsame Sicherheitspolitik einzuschwören, um Investitionen und die anhaltenden Sicherheitsprobleme in Borno und Bauchi zu erörtern. Die Zeit vor Weihnachten ist in Nigeria traditionell eine Reisezeit, in der Familien als auch Expats zur Feier von Weihnachten und Neujahr in ihre Heimat zurückkehren. Da viele Inlandsreisende oder im Ausland lebende Nigerianer, die Familien besuchen, große Mengen Bargeld oder Geschenke mit sich führen, ist dies natürlich eine Einladung für Banditen, und Raubüberfälle und Entführungen sind an der Tagesordnung.
Auswirkungen auf Bevölkerung und Wirtschaft
Die Auswirkungen der prekären Sicherheitslage auf die nigerianische Bevölkerung sind gravierend. In den letzten Jahren sind tausende von Menschen umgekommen und Eigentum im Wert von mehreren Milliarden Naira zerstört worden, insbesondere in den konfliktgeplagten Regionen im Norden. Die Konflikte werden durch Streitigkeiten um Landrechte, die islamistische Terrorgruppe Boko Haram und lokale Banden, die die Bevölkerung terrorisieren, angeheizt. Viele Menschen leben in ständiger Angst und können sich nicht frei bewegen, ohne Entführungen oder gewaltsame Angriffe befürchten zu müssen. Christlich geprägte Bauern werden häufig Opfer gewaltbereiter, meist muslimischer Viehhirten.
Lokale Zeitungen berichtete über den Fall eines Lehrers aus dem Bundesstaat Ondo, der auf dem Weg zu seiner Familie von Kriminellen entführt wurde. Diese forderten die horrende Summe von 100 Millionen Naira (etwa 50.000 Euro) für seine Freilassung. Ein Mann, der eigentlich im Klassenzimmer die Zukunft junger Menschen gestalten sollte, kämpft stattdessen um sein eigenes Überleben.
Eine Nation, die ihre Bürger schützen sollte, sieht nun zu, wie Familien unter Angst, Unsicherheit und den verzweifelten Rufen um Hilfe zerbrechen. Die Frage, wie viele solcher grausamen Vorkommnisse wir noch hören müssen, betrifft Nigerianer durch alle Bevölkerungsschichten hindurch. Ereignisse wie diese schüren die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zusätzlich. Die Bürger stellen immer lauter infrage, ob Militär, Polizei und Sicherheitsbehörden sie adäquat schützen können.
Neben der Bevölkerung leidet auch die Wirtschaft stark unter der sich verändernden Sicherheitslage. Unternehmen in den betroffenen Gebieten haben geschlossen oder sind in den Süden abgewandert, was zu weiteren finanziellen Problemen und Arbeitsplatzabbau geführt hat und die Arbeitslosigkeit vieler Nigerianer weiter verschärft. Bauern, insbesondere in ländlichen Gemeinden, meiden zunehmend ihre Felder aus Angst vor Angriffen, Entführungen oder dem Tod. Dies hat die landwirtschaftliche Produktion verringert und zu steigenden Lebensmittelpreisen beigetragen, wodurch die Lebenshaltungskostenkrise im ganzen Land weiter angestiegen sind.
Betroffene Gebiete und eine sich verschlechternde Sicherheitslage
Die ohnehin schon angespannte Sicherheitslage in Nigeria hat sich 2025 weiter verschlechtert, da die Gewalt in mehreren Regionen innerhalb kurzer Zeit sprunghaft zugenommen hat. Sicherheitsberichte weisen darauf hin, dass allein zwischen Januar und März 2025 über 2.000 Menschen bei Überfallen getötet wurden. Nach vorsichtigen Schätzungen verloren in den ersten sechs Monaten des Jahres rund 6.800 Nigerianer aufgrund der unsicheren Lage ihr Leben. Berichten katholischer Beobachter zufolge kamen zusätzlich zu diesen Zahlen über 7.000 Christen ums Leben, und etwa 350 Studenten wurden von verschiedenen Gruppen entführt.
Die Nordwestregion verzeichnete 2025 die höchste Zahl an Todesopfern. Bundesstaaten wie Zamfara, Katsina und Kaduna erlebten wiederholte Bandenangriffe auf Dörfer, die zu Massenmorden und Vertreibung führten. Allein im Bundesstaat Zamfara starben in den ersten Monaten des Jahres über 400 Menschen. Diese ständige Gewalt befeuert zusätzlich eine bereits jetzt andauernde Binnenmigration in den Süden Nigerias.
Im Nordosten des Landes hielt die Gewalt der Aufständischen trotz laufender Militäroperationen an. Im Bundesstaat Borno wurden Anfang 2025 über 500 Todesopfer verzeichnet, darunter sowohl Zivilisten als auch Sicherheitskräfte. Die Region Nord-Zentral, insbesondere der Bundesstaat Benue, war ebenfalls von tödlichen Stammeskonflikten betroffen. Gewaltsame Angriffe auf landwirtschaftliche Gemeinden forderten 2025 über 100 Menschenleben und verschärften die humanitäre Krise und die Ernährungssicherheitskrise im Mittelgürtel.
Obwohl die Opferzahlen in den südlichen Regionen niedriger waren, verzeichneten auch die Bundesstaaten im Südosten und Südwesten gezielte Tötungen, Entführungen und bewaffnete Angriffe. Diese Vorfälle zeigen, dass die Unsicherheit nicht mehr nur auf einen Teil des Landes beschränkt ist, sondern sich zu einem landesweiten Problem entwickelt hat. Insgesamt deuten die Zahlen von 2025 auf eine sich verschärfende Krise hin, in deren Verlauf innerhalb weniger Monate tausende von Menschen ihr Leben verloren haben. Die anhaltende Gewalt unterstreicht die dringende Notwendigkeit verstärkter Sicherheitsmaßnahmen und langfristiger Lösungen, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene.
Aufgrund der gewaltsamen Unterdrückung ziviler Proteste, namentlich der End-SARS-Proteste und des Massakers am Lekki Toll Gate in Lagos im Jahr 2020, genießt das nigerianische Militär in der Bevölkerung einen äußerst schlechten Ruf und keine breite Unterstützung. Die wenigen Erfolge und die zahlreicheren Misserfolge im Kampf gegen Boko Haram legen Zeugnis ab von mangelnder Moral, Kampfkraft und Kampfeswillen sowie von einem Mangel an gut ausgebildeten Offizieren, welche die Armee führen können. Die jüngsten Angriffe auf Militäreinrichtungen, bei denen Soldaten getötet und Waffen sowie Ausrüstung erbeutet wurden, zeigen zudem, dass das Militär nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen und die Aufständischen nicht länger zögern, die Regierung sowie ihre Vertreter direkt anzugreifen.
Reaktion der Regierung auf den wachsenden Unmut
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die nigerianische Regierung wiederholt die mangelnde Sicherheit als ein zentrales nationales Problem bezeichnet, was als schnellstmöglich zu lösen gilt. Die Zentralregierung hat mit verstärkten Militäroperationen und Polizeieinsätzen in den betroffenen Gebieten reagiert. Militäreinsatze wurden im Nordosten, Nordwesten und im nördlichen Zentrum des Landes durchgeführt, wobei Truppen und Spezialeinheiten zur Bekämpfung von Aufständen, Bandenkriminalität und ethnischen Konflikten eingesetzt wurden – allerdings mit geringem bis gar keinem Erfolg.
Die staatlichen Ausgaben für Verteidigung und innere Sicherheit sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen, die Rekrutierung von zusätzlichem Sicherheitspersonal forciert und die Beschaffung neuer Ausrüstung eingeleitet. Mit Ausgaben für Militär und Sicherheit in Höhe von rund 900 Milliarden Naira (ca. 531 Millionen Euro) im Jahr 2020 stieg das Budget bis 2025 schrittweise auf rund 4,9 bis 6,1 Billionen Naira (ca. 3,5 Milliarden Euro). Auf Ebene der Bundesstaaten haben mehrere Gouverneure lokale Sicherheits- und Bürgerwehren zur Unterstützung der lokalen Polizeistreitkräfte als auch Bundeskräfte, insbesondere in ländlichen Gebieten, eingeführt.
Angesichts der weit verbreiteten Korruption, des Nepotismus und des Stammesdenkens ist es jedoch fraglich, ob alle Gelder ihrem Zweck entsprechend verwendet werden. Präsident Trumps jüngste Kritik an den Morden an Christen hat gezeigt, dass selbst hochrangige nigerianische Politiker Boko Haram und die Morde der Fulani-Hirten eindeutig unterstützen und die Kritik als unberechtigt, überzogen oder schlichtweg falsch zurückweisen. Die Gefahr eines nigerianischen Bürgerkriegs scheint weder gebannt noch fern zu sein. Präsident Tinubus offensichtliche innenpolitische Schwäche stärkt zudem die Biafra-Bewegung, die seit Langem die Abspaltung von Nigeria fordert. Obwohl die Bewegung nach dem brutalen Bürgerkrieg Anfang der 1970er Jahre an Schwung verlor, verschwand sie nie ganz. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Präsident Tinubu sich auf einer Goodwill-Tour durch Nigeria befindet, um Unterstützung für den Kampf gegen die grassierende Kriminalität und für den Erhalt der Integrität Nigerias zu gewinnen.
Die Regierung in Abuja hat endlich die richtigen Schlüsse gezogen und die angespannte Sicherheitslage mit der herrschenden Armut und Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht. Neben dem Plan für soziale Programme zur Stabilisierung der Situation wurden auch Wirtschaftsförderungsprogramme als langfristige Lösungen durch Zuschüsse und Kleinkredite diskutiert. Trotz dieser Bemühungen gab es anhaltende Angriffe und steigende Todeszahlen in den Jahren 2024 und 2025. Oppositionspolitiker haben deshalb Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit der aktuellen Maßnahmen geäußert und Forderungen nach verbesserter Koordination, besserer geheimdienstlicher Informationsbeschaffung und entschlossenerem Handeln gefordert. Da die Zentralregierung jedoch allein rund 6,1 Billionen Naira – was etwa zwei Prozent des BIP entspricht – für Militär- und Sicherheitsausgaben aufwendet, sind ihre Möglichkeiten zur Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen und Wirtschaftswachstumsinitiativen eingeschränkt.
Um Nigerias wachsender Unsicherheit zu begegnen, muss die Regierung die Sicherheitsmaßnahmen in allen Bundesstaaten verstärken. Verbesserte nachrichtendienstliche Arbeit, die Zusammenarbeit von Geheimdienst mit Nachbarländern und Verbündeten, die ebenfalls ein wichtiges Interesse an der Terrorismusbekämpfung haben, eine bessere Koordination der Sicherheitsbehörden auf Bundes- sowie Landesebene und strengere Grenzkontrollen sind unerlässliche Schritte zur Reduzierung der Gewalt. Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist jedoch ebenso entscheidend. Mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen würden dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit zu senken und Jugendliche von kriminellen Aktivitäten abzuhalten. Kleine und mittlere Unternehmen sollte der Zugang zu Finanzmitteln und Schulungen vereinfacht werden, während landesweite Programme zur Kompetenzentwicklung gestärkt werden sollten, um die Selbstständigkeit zu fördern.
Die lokalen Regierungen haben die Initiative ergriffen und das Problem durch die Schaffung von Bürgermilizen als unbewaffnete, paramilitärisch ausgebildete Einheiten angegangen. Um die Kriminalität in den Wohngebieten zu bekämpfen, hat zum Beispiel der Bundesstaat Lagos das „Lagos Neighbourhood Safety Corps (LNSC)“ gegründet, um die Polizei bei der Verbrechensbekämpfung zu unterstützen. Da die Mitglieder aus der lokalen Nachbarschaft stammen und enge Verbindungen zu ihrer Kommune haben, besteht die Hoffnung, dass lokale Geschäftsleute und Bürger verdächtiges Verhalten und Individuen den ihnen vertrauten LNSC-Mitgliedern eher melden als der Polizei.
Um das Risiko einer Nahrungsmittelknappheit in naher Zukunft zu vermeiden, die den Konflikt weiter anheizen würde, müssen Landwirte durch Zugang zu günstigen Krediten, moderner Landwirtschaftsausrüstung, Düngemitteln und angemessener Sicherheit in ländlichen Gebieten unterstützt werden. Darüber hinaus wird die konsequente Festnahme und Strafverfolgung von Straftätern in allen Regionen dazu beitragen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz wiederherzustellen und zukünftige Straftaten zu verhindern.
Bürgerkrieg würde Flüchtlingsströme von beispiellosem Ausmaß auslösen
Die Unsicherheit bleibt eine große Herausforderung für Nigeria und erfordert dringende und nachhaltige Maßnahmen. Die Stärkung der Sicherheitsinstitutionen ist unerlässlich, um Menschenleben zu schützen und alltägliche Aktivitäten wie Bildung, Wirtschaft und soziale Interaktion zu ermöglichen. Nur ein sichereres und stabileres Nigeria wird Frieden, wirtschaftliche Entwicklung und langfristigen nationalen Fortschritt und Wohlstand fördern.
Präsident Tinubu ist sich bewusst, dass seine Wiederwahl im Jahr 2027 von seiner Fähigkeit abhängt, die Sicherheitslage in Nigeria zu beeinflussen und zu verbessern. Seine aktuelle Reise in drei Provinzen – sicherlich nicht die letzte dieser Art – ist ein Versuch, sein innenpolitisches Image aufzupolieren, das nach der Notlandung eines nigerianischen Militärflugzeugs in Burkina Faso, welche in ganz Westafrika Spekulationen und Unruhen auslöste und zur vorübergehenden Inhaftierung von elf Militärangehörigen führte, erheblich gelitten hat. Sein Erfolg hängt jedoch auch maßgeblich von der Zusammenarbeit mit den Gouverneuren und lokalen Machthabern ab, die in einem multiethnischen Staat wie Nigeria oft widersprüchliche Interessen verfolgen.
Nichtsdestotrotz sollte die internationale Gemeinschaft, insbesondere Europa, ein vitales Interesse an einem stabilen und prosperierenden Nigeria haben. Abgesehen von seiner wirtschaftlichen Größe, seiner Bevölkerung von rund 230 Millionen und seiner Bedeutung in Westafrika würde ein Land, das in einen weiteren brutalen Bürgerkrieg abgleitet, Flüchtlingsströme von beispiellosem Ausmaß auslösen und darüber hinaus eine ganze Region destabilisieren.
*Fatimoh Danjuma Bintu (25), aus Benue State, lebt und arbeitet derzeit in Lagos, Nigeria, und hat einen Abschluss in Gesundheitstechnologie. Sie setzt sich dafür ein, verlässliche Informationen sowie politische und wirtschaftliche Zusammenhänge aus ihrem Land und Westafrika verständlich einzuordnen. Achgut.com hat die junge Autorin und Journalistin eingeladen, über ihr Land, dessen Entwicklung auch große Konsequenzen für Europa hat, regelmäßig zu berichten.