IPG-Journal: Afrika – Eine Frage der Macht

IPG-Journal: Afrika - Eine Frage der Macht

Afrikas Demokratien stecken in der Krise. Doch die Herausforderungen reichen weit über den Kontinent hinaus – und Europa kann daraus lernen.

Für einen liberalen Beobachter ist das beunruhigendste Bild nicht ein Panzer, der vor einen Präsidentenpalast rollt, sondern die Menge jubelnder Bürger, die neben ihm herläuft. Wir erfinden bequeme Erklärungen, um solche Phänomene wegzureden: Desinformation, mangelnde Bildung oder die Anziehungskraft eines „starken Mannes“. Doch derartige Erklärungen sind intellektuelle Faulheit, getarnt als vermeintliche Analyse. Die unangenehme Wahrheit ist, dass für Millionen Menschen in Afrika die „demokratische Ära“ nicht gleichbedeutend mit Freiheit und Emanzipation war, sondern mit dem Kampf ums Überleben.

Für den Durchschnittsbürger in Zentralmali oder im Norden von Burkina Faso war der demokratische Staat eine Instanz, die zwar Steuern eintrieb, aber keinerlei Sicherheit anbieten konnte; ein System, in dem die politische Klasse in bestens klimatisierten Räumen der Hauptstädte debattierte, während das Hinterland wortwörtlich brannte. Die Bürgerinnen und Bürger erlebten, wie demokratische Regierungen zuschauten, während die Gewalt der Dschihadisten eskalierte, die Autorität des Staates zusammenbrach und offene Korruption herrschte, während ausländische Militärkräfte mit mehr Autonomie operierten als ihre eigenen gewählten Parlamente. Wenn echte demokratische Funktionen verschwinden, entscheiden sich die Menschen unweigerlich eher für die Ordnung, die ein Soldat verspricht, statt für das Chaos, das ein Politiker verwaltet.

Wenn demokratische Formen nur den Anschein von Verantwortung und Rechenschaftspflicht erwecken, ohne diese tatsächlich zu erfüllen, hören die Bürger auf, sie zu verteidigen.

Die Entwicklungen in Tansania und Mosambik sind in dieser Hinsicht beispielhaft: Die demokratische Öffnung der Länder führte zu fairen Wahlen; aber dann musste man mitansehen, wie diese Systeme zu reinen Instrumenten der Machtkonzentration in den Händen einer Elite und einer nur noch zum Schein existierenden Opposition verkamen, die keine Veränderung brachten. Wenn demokratische Formen nur den Anschein von Verantwortung und Rechenschaftspflicht erwecken, ohne diese tatsächlich zu erfüllen, hören die Bürger auf, sie zu verteidigen.

Noch katastrophaler waren die Vorgänge im Sudan. Ein Diktator wurde durch einen Massenaufstand gestürzt, und es wurden Rahmenbedingungen für einen Übergang ausgehandelt. Doch dem Zusammenbruch des Staates ging ein Prozess voraus, der sich auf Machtteilung konzentrierte und die zugrunde liegende politische Ökonomie der Gewalt ignorierte. Die internationale Gemeinschaft war so sehr auf einen bestimmten Verfahrensweg fixiert, dass sie die maroden Fundamente des Staates schlichtweg nicht wahrnahm. Dies führte zu einem Bürgerkrieg, der das Land zerstört hat.

Dieser Weg war repräsentativ: Man wollte schnelle Wahlen, ohne aber die tieferliegenden Probleme bei der Entscheidungsfindung und in den Institutionen anzugehen. Dieser Weg, der sich lediglich auf Wahlmechanismen und den Machtwechsel konzentrierte, vernachlässigte die tiefergehenden Probleme: ein „rationales Ausblenden“ der Politik seitens der sudanesischen Wähler, systemische Korruption innerhalb der neuen Bürokratie und ein tief verwurzelter Mangel an Vertrauen, das für echte politische Aushandlungsprozesse nötig ist. Indem dem unmittelbaren Ziel der Durchführung einer planmäßigen Wahl Vorrang eingeräumt wurde, ignorierte die internationale Gemeinschaft oft das größte Problem, nämlich dass relativ kurze Wahlzyklen die seit Jahren festsitzenden Konflikte um Wohlstand, ethnische Zugehörigkeit oder Machtverteilung nicht lösen können, sondern lediglich eine Plattform für das Aufflammen von neuen Konflikten bieten.

Diese Funktionsstörungen bei Wahlen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent zeigen: Die Bürger sind überzeugt, dass demokratische Verfahren eher den Interessen der Elite als dem Gemeinwohl dienen. Deshalb weigern sie sich, daran teilzunehmen. Die geringe Wahlbeteiligung ist keine Apathie, sondern die rationale Einschätzung, dass die demokratische Architektur einfach nicht das Volk repräsentiert. Zu lange hat die internationale Gemeinschaft den Zustand der afrikanischen Demokratien daran gemessen, dass Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt werden – dass Stimmen ausgezählt und Checklisten zum Thema Governance abgehakt werden konnten –, statt an ihrer funktionalen Legitimität.

Was wir beobachten, ist allerdings keine „kulturelle Unvereinbarkeit“ afrikanischer Gesellschaften mit Demokratie, sondern ein grundlegender Designfehler. Wir haben in fragilen, diversen Gesellschaften, in denen Konsens der einzige Schutz vor weiterer Spaltung ist, parlamentarische Systeme eingeführt, die auf Konfrontation und auf dem Winner takes all-Prinzip basieren. Wir haben dem Wahl- und Wahlkampftheater Vorrang gegeben vor einer festen, lokalen Verankerung von Rechenschaftspflicht und Transparenz. Deshalb wird Demokratie nicht als Mechanismus zur Lösung von Problemen gesehen, sondern als ein mit harten Bandagen ausgetragenes Spiel darum, wer Ressourcen ausbeuten darf.

Eine neu konzipierte demokratische Architektur muss von einer grundlegenden Erkenntnis ausgehen: Legitimität entsteht dadurch, dass man den Bürgerinnen und Bürgern das liefert, was sie zum (Über-)Leben brauchen, und nicht dadurch, dass man gewisse Verfahren importiert.

Erstens müssen wir uns fragen, ob das Winner takes all-Modell in extrem pluralistischen Gesellschaften wirklich sinnvoll ist. Wenn ein Wahlergebnis für die Verliererseite eine existenzielle Bedrohung darstellt, ist das System unzulänglich. Wir müssen formalisierte Modelle der direkten Demokratie, des Konkordanzsystems und der Machtteilung prüfen. Diese dürfen nicht nur Friedensdeals für den Notfall sein, sondern müssen zur Standardpraxis werden.

Zweitens muss sich die Konzentration von Macht verlagern. Der hyperzentralisierte postkoloniale Staat ist meist zu weit weg, um schnell reagieren zu können. Eine neu konzipierte Demokratie könnte dementsprechend eine radikale Dezentralisierung beinhalten, bei der lokale Räte – die oft ein hohes Maß an Vertrauen genießen – in die formale Staatsarchitektur integriert werden, anstatt als parallele Strukturen verstanden zu werden. In dieser Hinsicht würde auch eine entschlossene und aufrichtige Einbeziehung der immer präsenter werdenden protestierenden Jugend große Erfolgschancen bieten.

Drittens darf Demokratie nicht mit Schwäche assoziiert werden. Ein demokratischer Staat muss in der Lage sein, Macht auszuüben und Gesetze konsequent durchzusetzen, aber basierend auf der afrikanischen Menschenrechtsphilosophie Ubuntu (auf Deutsch in etwa: „Ich sehe und respektiere dich“). Die Behauptung, dass Menschenrechtsbedenken effektive Sicherheitsmaßnahmen verhindern, ist falsch. Es ist vielmehr das Fehlen legitimierter, rechenschaftspflichtiger Institutionen, die beispielsweise dazu führen, dass Sicherheitskräfte übergriffig werden.

Das heißt, wir brauchen verfassungsrechtliche Konstruktionen mit Mechanismen zu Transparenz und Rechenschaftspflicht, die über Wahlen hinausgehen, ebenso wie Wirtschaftsmodelle, die die Bürger nicht dazu zwingen, sich letztlich zwischen Demokratie und Überleben entscheiden zu müssen. Es geht nicht darum, universelle Prinzipien aufzugeben, sondern zu akzeptieren, dass das britische Westminster-Modell oder das US-amerikanische Präsidialmodell nicht die einzigen Wege sind, um diese Prinzipien zu verwirklichen. Die Demokratie muss endlich „wieder liefern“.

Althergebrachte demokratische Strukturen haben überall auf der Welt Probleme, für eine verantwortungsvolle und reaktionsfähige Regierungsführung zu sorgen. Besonders deutlich zeigt sich das in Afrika, wo die ökonomischen Puffer zu dünn sind, um das institutionelle Versagen abzufedern. Europäische Beobachter sollten dies aber nicht als exotisches, „rein afrikanisches“ Problem sehen. Die Repräsentationskrise ist global.

Europa kann aus der Krise Afrikas genauso viel lernen, wie es selbst zu lehren hat.
Auf beiden Kontinenten wird mit Strukturen des 20. Jahrhunderts gegen die Unwägbarkeiten des 21. Jahrhunderts gekämpft. In gefestigten Demokratien werden die etablierten Institutionen gebeugt und verdreht, in fragilen brechen sie zusammen. Doch die dahinter stehende Ursache, nämlich die Entfremdung der Bürger von den Machthabern, ist dieselbe. Europa kann aus der Krise Afrikas genauso viel lernen, wie es selbst zu lehren hat. Denn in praktisch allen europäischen Demokratien sagt die Bevölkerung ebenfalls immer öfter, Wahlen würden nichts ändern und die bestehenden Institutionen könnten Themen wie Migration und Klimawandel nicht angemessen bewältigen.

Ich argumentiere hier nicht für Angleichung, sondern vielmehr gegen Exzeptionalismus: Wenn wir die Probleme in Afrika für besonders oder einzigartig halten, übersehen wir, was sie über die demokratischen Strukturen selbst aussagen. Die Belastungstests für die Demokratie mögen in Afrika härter und die Auswirkungen katastrophaler sein, aber die grundsätzlichen Probleme – Repräsentation ohne Reaktionsfähigkeit, Macht ohne Rechenschaftspflicht – plagen Systeme weltweit. Wir können weiterhin fehlerhafte Systeme verteidigen, indem wir uns auf die althergebrachten Verfahren fixieren und lediglich „schwache“ Institutionen für Probleme verantwortlich machen. Oder wir können diese Probleme als Beleg dafür sehen, dass unsere traditionellen Strukturen neu gedacht werden sollten.

Eine rückschrittliche Antwort darauf wäre: die Demokratie aufgeben, entweder zugunsten von Nostalgie für Autoritarismus, oder indem man die aktuelle Dysfunktionalität als „für Afrika gut genug“ hinnimmt. Stattdessen braucht es eine progressive Alternative: demokratische Prinzipien von der Praxis der bestehenden Institutionen trennen. Die Staatsstreiche und Krisen zeigen die Schwachstellen eines fehlerhaften Modells auf, sie sind aber nicht das Ende des demokratischen Projekts. Auf der Grundlage von Erkenntnissen, zum Beispiel aus dem Gaborone Democracy Lab, müssen wir begreifen, dass demokratische Institutionen wieder funktionieren können. Doch dafür müssen sie sich weiterentwickeln dürfen. Die Lösung besteht nicht darin, schrittweise Reformen zu predigen, sondern darin, eine kreative, auch risikoreiche Neugestaltung der Institutionen herbeizuführen – eine Neugestaltung, die die Bedürfnisse der Menschen über das Abhaken internationaler Indikatoren stellt. (Friedrich Ebert Stiftung)