
Manche Geschichten berühren gerade durch ihre Einfachheit. Die Geschichte dieser streunenden Hündin, die in Zagora im Süden Marokkos von einem britischen Paar aufgenommen wurde, gehört dazu. Sie folgte den Radfahrern über mehr als 80 Kilometer – getrieben vom Instinkt, vom Hunger oder vielleicht von einem entstehenden Gefühl der Bindung. Das Paar, tief bewegt, pflegte sie gesund, schützte sie, ließ sie impfen und brachte sie nach monatelangen Formalitäten mit nach Großbritannien. Eine Geschichte mit Happy End. Doch sie offenbart vor allem eine bedrückende Realität: Tausende, ja Millionen anderer Hunde werden dieses Glück niemals haben.
Die grausame Realität hinter den großen Events
Mit Blick auf den Afrika-Cup 2025 und die Fußball-Weltmeisterschaft 2030 versucht Marokko verzweifelt, sich ein neues Gesicht zu geben. Straßen säubern, Städte verschönern, Investoren beruhigen. Doch dieser Wille stößt auf eine barbarische, längst überholte Methode: die massenhafte Tötung von Streunern. Erschießungen, Vergiftungen, lebendiges Verbrennen. Unerträgliche Szenen, dokumentiert von PETA, der Internationalen Koalition für Tiere oder von der Schauspielerin Ouidad Elma, einer unermüdlichen Aktivistin für Tierschutz.
Hinter der glänzenden Fassade von Sport und Tourismus spielt sich in den Gassen ein stilles Massaker ab. Und das sind keine Gerüchte: Bilder, Zeugenaussagen und Zahlen belegen es. Bis zu drei Millionen Hunde könnten bis 2030 getötet werden.
Drei Millionen Tierleben, geopfert für den schönen Schein.
Weder Ethik noch Wissenschaft rechtfertigen diese Praktiken. Die marokkanischen Behörden rechtfertigen diese Kampagnen oft mit der öffentlichen Sicherheit. Es stimmt, dass es dramatische Fälle gibt: tödliche Angriffe, Tollwutinfektionen, besorgniserregende hygienische Vorfälle. Aber muss man auf ein Gesundheitsproblem mit Methoden aus dem Mittelalter reagieren? Wissenschaftler und Tierärzte sagen es seit Jahren: Die einzige nachhaltige Lösung ist die TNVR-Strategie (Trap-Neuter-Vaccinate-Return – Fangen, Sterilisieren, Impfen, Zurückbringen). Diese international bewährte Methode reguliert die Hundepopulation ohne Grausamkeit und reduziert gleichzeitig Gesundheitsrisiken. Doch in Marokko sind die TNVR-Programme nicht nur unzureichend, sondern die dafür vorgesehenen Mittel verschwinden in undurchsichtigen Kanälen. Wohin fließt das Geld für Sterilisationen und Tierheime? Wer profitiert wirklich? Diese Fragen bleiben unbeantwortet, während täglich Hunde wegen Gleichgültigkeit oder unter Kugeln sterben.
Ein beunruhigender Gesetzesentwurf: Mitgefühl unter Strafe
Als wäre das nicht genug, wurde in Marokko kürzlich ein Gesetz vorgeschlagen, das verbietet, streunende Tiere zu füttern, unterzubringen oder zu behandeln. Eine unverständliche Entscheidung, die Mitgefühl kriminalisiert. Zuwiderhandelnde riskieren bis zu 3.000 Dirham Geldstrafe, also fast 300 Euro. Damit wird die grundlegendste Handlung – einem Lebewesen Nahrung zu geben – zu einem Delikt. Wie lässt sich im 21. Jahrhundert rechtfertigen, dass ein Bürger bestraft wird, weil er einem verdurstenden Hund Wasser gegeben hat? Dieses Gesetz ist nicht nur absurd, sondern zutiefst unmenschlich.
Angesichts des Skandals erheben sich starke Stimmen. David Hallyday, Jane Goodall, die Fondation Brigitte Bardot und Hunderttausende Bürger fordern ein sofortiges Ende der Tötungen. Hallyday hat sogar von der FIFA verlangt, Marokko als Co-Gastgeber der WM 2030 auszuschließen, falls nichts geschieht. Und er hat recht: Die FIFA trägt Verantwortung, denn sie hat ein Bewerbungsdossier akzeptiert, in dem sich Marokko verpflichtete, die Tötungen ab August 2024 zu verbieten. Diese Zusagen sind bindend. Sie zu brechen heißt, die ganze Welt zu belügen.
Marokko muss sich entscheiden: Modernität oder Barbarei
Marokko steht an einem Wendepunkt. Das Land kann weiter die Augen verschließen und die Leichen unter den neuen Stadionteppichen verstecken – oder es kann den Weg der Ethik, des Respekts vor dem Leben und der Transparenz einschlagen. Denn hier geht es nicht nur um das Image eines Landes, sondern um sein kollektives Gewissen. Eine Gesellschaft wird daran gemessen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Und die streunenden Hunde, verletzt, krank, hungrig, haben keine Stimme.
Sie haben keinen Anwalt, keinen Abgeordneten, keine Gewerkschaft. Nur ein paar Aktivisten, einige NGOs und Bürger, die nicht wegsehen. Tierheime bauen, Tierkliniken finanzieren, sterilisieren, impfen, die Bevölkerung zur Koexistenz erziehen – all das ist möglich und dringend nötig. Marokkanische Tierärzte wie Salima Kadaoui in Tanger beweisen täglich, dass menschliche und wirksame Lösungen existieren. Doch sie leiden unter mangelnder politischer Unterstützung und fehlender langfristiger Finanzierung.
Eine letzte Chance für die Würde
Das ist kein unausweichliches Schicksal, sondern eine Frage des politischen Willens und der Prioritäten. Zwischen einer Politik der Angst und einer Politik des Mitgefühls muss gewählt werden. Zwischen institutionalisierter Gewalt und verantwortungsbewusstem Handeln muss man sich entscheiden. Es geht nicht nur um das Schicksal der Straßenhunde, sondern um unsere eigene Menschlichkeit. Wenn wir ihnen keinen Platz zugestehen, sie verhungern oder töten lassen, zeigen wir, was wir bereit sind für den schönen Schein zu opfern. Darum sollte Marokko zuhören.
Seine Entscheidungsträger sollten sich daran erinnern, dass Fortschritt sich nicht an Beton oder Stadionbauten misst, sondern an Mitgefühl, Gerechtigkeit und Respekt vor dem Leben – jedem Leben. Die Hunde in Marokko brauchen kein Massengrab und keine Gleichgültigkeit der Behörden. Sie brauchen Hilfe, Pflege, Aufmerksamkeit – und vor allem einen gesetzlichen Rahmen, der sie schützt. Es ist an der Zeit, dass Marokko beweist, dass es ein modernes Land sein kann, ohne die Schwächsten zu opfern. (Quelle: afrik.com)