*Volker Seitz/Buchtipp: Der Kartograf des Vergessens

*Volker Seitz/Buchtipp: Der Kartograf des Vergessens

Der weiße Afrikaner Mia Couto wurde zum wichtigsten Chronisten Mosambiks. Sein neuer Roman beschreibt die Wirren vor der Unabhängigkeit und die Widersprüche in der Gegenwart. Der mosambikanische Schriftsteller Mia Couto ist einer der großen Erzähler der lusophonen [portugiesischsprachigen, Anm. d. Red.] Welt. Er ist in regelmäßigen Abständen als Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis im Gespräch.

Sein letzter, mitreißend geschriebener Roman „Der Kartograf des Vergessens“ dreht sich um das Erinnern und Vergessen des Dichters Diogo Santiago, der 2019 nach jahrelanger Abwesenheit in seine Geburtsstadt Beira zurückkehrt und dort Liana Campos begegnet. Beide sind durch ihre Vergangenheit und ihre Väter miteinander verbunden. Lianas Vater, der damalige Geheimdienst-(PIDE)-Chef in Beira, hatte in den 70er Jahren Diogos Vater mitten im Kolonialkrieg in Mosambik verhaftet. 

Liana, in einer Pflegefamilie aufgewachsen, sucht ihre Mutter, und Diogo hat seine Vergangenheit mittels Antidepressiva vergessen. Liana konfrontiert nun Diogo mit alten Unterlagen von 1973 mit der Aufforderung, „mit den Schatten zu sprechen“, sein Vergessen zu überwinden und ihrer beider Geschichte zu schreiben. Liana forscht nach ihrer Mutter Almalinda, die mit ihrem schwarzen Geliebten zusammengekettet in den Fluss sprang, aber gerettet wurde und verschwand.

Ein sprachliches Meisterwerk
Mia Couto stellt in seiner Vorbemerkung fest: „Manche mussten vergessen können, was geschah, um Zukunft zu ermöglichen.“ Weiter schreibt er: „Diese fiktive Erzählung ist durch reale Personen und Ereignisse inspiriert“.

Liana übergibt Diogo einen Karton mit Tagebucheinträgen, Vernehmungsprotokollen der PIDE, amtlichen Schreiben, privaten Briefen und Zeugenaussagen. Damit kann der Dichter die schmerzhaften Ereignisse im Unabhängigkeitskrieg als „Kartograf des Vergessens“ rekonstruieren. Er gibt den Sprachgebrauch und die moralischen Positionen der Kolonialherren und Rebellen ungeschönt wieder. Erfreulicherweise verzichtet der Verlag auf eine „Einordnung“ für den Leser.

In der Gegenwart beobachtet der Ich-Erzähler Diogo Santiago mit bitterer Ironie in seinem Hotel Teilnehmer eines Seminars einer Nicht-Regierungs-Organisation, die sich als „Spender“ bezeichnen. „Wieder einmal wird über das Elend der Bevölkerung in den luxuriösesten Hotels der Stadt diskutiert.“ (S. 45)

Wie in seinen früheren Romanen wurde der weiße Afrikaner Mia Couto (eigentlich Antonio Emilio Leite Couto), der während des Bürgerkrieges in Mosambik geblieben ist, zum wichtigsten Chronisten Mosambiks. Er lebt in Maputo und ist auch als Biologe in der Umweltforschung tätig.

Mia Couto sagt: „Wir sind so viel gleichzeitig. Ich bin ein Afrikaner, der aus Europa kommt. Ich bin ein Schriftsteller in einer Region, in der das Mündliche dominiert.“ Er beschreibt in diesem Buch die Wirren vor der Unabhängigkeit und die Widersprüche in der Gegenwart. Das Buch ist – mit seiner bildhaften afrikanischen Gedankenwelt – ein sprachliches Meisterwerk.

Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens, 2023, Unionsverlag. Hier bestellbar.

(Quelle: achgut.com , mit freundlicher Genehmigung des Autors *Volker Seitz, Botschafter a.D., Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, dtv, 11. Auflage 2021)