
London 2019. Die minderjährige eritreische Geflüchtete Hannah kommt in der britischen Hauptstadt an. Ihre Vergangenheit ist allgegenwärtig. Immer wieder tauchen Bilder ihrer Mutter auf, die 1941 geboren wurde – in jenem Jahr, als britische Truppen die Italiener besiegten. Hannahs Großvater feierte die Befreiung vom Faschismus mit Stolz und Dankbarkeit. Doch ein britischer Offizier sagte ihm: „Ich habe das nicht für dich gemacht, Nigger.“
Diese Begebenheit hat sich tief in Hannahs Gedächtnis eingebrannt und prägte ihre Kindheitserfahrungen mit den Briten. Ihr Großvater versuchte, sich dem Englischen anzunähern – er las britische Bücher, aß britisches Essen, kaufte graue Anzüge und trug einen Filzhut.
Hannahs Mutter wurde von der äthiopischen Armee getötet, als Hannah erst zwei Jahre alt war. Alles, was sie über ihre Mutter weiß, erfährt sie aus zweiter Hand. Ihr Vater kümmerte sich liebevoll um sie, brachte ihr die Natur nahe und vermittelte ihr die Liebe zu Büchern. Gemeinsam erlebten sie die immer wiederkehrende Gewalt im Land. Der Vater lehrte sie, dass das Sehen und Berühren von Schönem eine tiefere Bedeutung habe.
In Eritrea liest Hannah die Bücher, die ihr Vater gesammelt hat. Auch das Tagebuch ihrer Mutter bekommt sie von ihm geschenkt. Nach dem Tod des Vaters lebt sie bei ihrem früheren Hausmädchen und dessen Sohn.
Mit 17 Jahren wird Hannah nach London geschickt. Das Familienerbe wird aufgewendet, um den ägyptischen Schlepper zu bezahlen.
Nach der Ankunft am Flughafen muss sie zahlreiche Formalitäten erledigen. Der Schlepper hatte ihr geraten, den gefälschten Pass zu zerreißen. Einer Dolmetscherin beantwortet Hannah die vielen Fragen: nach ihrem Alter, nach den Gründen für ihre Reise nach London. Stets bemüht, gute Argumente für einen erfolgreichen Asylantrag zu liefern, zeigt sie einen großen Zettel mit folgender Aufschrift:
„Ich spreche Tigrinya, Amharisch und Arabisch. Ich habe keinen Pass. Ich komme aus Eritrea, ich fliehe vor dem Krieg und möchte Asyl beantragen.“
Hannah wird von Diana aufgenommen, einer Sozialarbeiterin, die für eine Hilfsorganisation arbeitet. Ihr Asylantrag wird von einer britisch-asiatischen Anwältin und ihrem britisch-eritreischen Assistenten unterstützt. Die Anwältin erklärt ihr, dass ihre Geschichte angepasst werden müsse, um im Home Office als asylberechtigt anerkannt zu werden.
Hannah entgegnet: „Dass ich hier bin, weil die Briten mein Land an Äthiopien angegliedert haben, interessiert euch nicht.“
Immer wieder wird Hannah zu Details aus ihrem Leben in Eritrea befragt, zu ihrer Fluchtroute, zu den Schleppern, und dazu, wer die teure Reise finanziert habe. Eine Frist für die Entscheidung über ihren Asylantrag gibt es nicht.
In der Zwischenzeit gelingt es Hannah, sich ihren beiden Mitbewohnerinnen Diana und Anne zu nähern und Vertrauen zu ihnen zu fassen.
Arbeiten oder studieren darf sie nicht. Die finanzielle Unterstützung erhält sie vom Department of Social Security: Ein Teil des Geldes wird für ihre Unterkunft verwendet, der Rest dient ihr als Taschengeld.
Ihre wechselhaften sexuellen Beziehungen fordern sie emotional stark, bringen tiefe Zweifel, aber auch Zuversicht – sie beginnen ihr zu zeigen, dass ein Ankommen und Zurechtkommen in diesem fremden Land möglich sein könnte.
Beim Lesen des Tagebuches ihrer Mutter entdeckt Hannah Details über deren Gefühlsleben. Die Eintragungen machen für sie nachvollziehbar, was ihre Mutter unter Liebe verstand, wie sie ihre Empfindungen gelebt hat. Diese Aufzeichnungen eröffnen der Tochter wichtige Zugänge zu den Hoffnungen und Wünschen ihrer Mutter.
Hannah sucht nach Antworten – und findet in den Tagebüchern welche auf die drängenden Fragen ihres eigenen Lebens im Exil.
Ihr Asylantrag wird abgelehnt. Stattdessen erhält sie den Status einer „außerordentlichen Aufenthaltserlaubnis“. Sie ist damit nur geduldet, nicht als Flüchtling anerkannt, und bleibt heimatlos. Die Gründe für die Ablehnung ihres Antrags bleiben ihr unbekannt.
Der eritreisch-äthiopisch-britische Autor Sulaiman Addonia hat diesen Roman mit großer Einfühlsamkeit geschrieben. Er selbst lebte in einem Geflüchtetenlager im Sudan, später als Jugendlicher in Saudi-Arabien. Als Minderjähriger kam er nach London und absolvierte dort ein Studium in Entwicklungs- und Wirtschaftswissenschaften.
All diese Erfahrungen und Eindrücke fließen in seinen dritten Roman ein – kraftvoll und eindringlich erzählt. (Theresa Endres)
Sulaiman Addonia
Die Sehenden
Roman
Orlanda Verlag, Berlin 2025
Reihe: Welt bewegt
Aus dem Englischen von Sula Textor
ISBN 978-3-949545-69-6
21,00 Euro