Jahresbericht 2020 SOS MEDITERRANEE: Mindestens 983 Menschen verloren auf der Flucht aus Libyen ihr Leben im zentralen Mittelmeer oder gelten als vermisst

Jahresbericht 2020 SOS MEDITERRANEE: Mindestens 983 Menschen verloren auf der Flucht aus Libyen ihr Leben im zentralen Mittelmeer oder gelten als vermisst
Foto: Anthony Jean / S.M.

Zum sechsten Jahrestag ihrer Gründung am „Europatag“ 2015 blickt die zivile Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE Deutschland zurück auf das vergangene Jahr. In ihrem Jahresbericht 2020 erzählen die Seenotretter von Einsätzen ihres Schiffs Ocean Viking unter strengen COVID-19-Hygienemaßnahmen, die politisch motivierte Festsetzung von Rettungsschiffen ab dem Sommer und die dramatischen Folgen für schutzsuchende Menschen.

Es war ein besonders schwieriges Jahr für die zivile Seenotrettung. Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf ihre Arbeit haben die Seenotretter vor neue Herausforderungen gestellt: geschlossenen Häfen, festgesetzte Schiffe, lange Quarantänezeiten und aufwendige COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen an Bord.

Heute vor sechs Jahren, am 9. Mai 2015, dem „Europatag“, wurde die europäische Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE von Bürgerinnen und Bürgern in Berlin gegründet, initiiert von dem Kapitän Klaus Vogel. Sie wollten dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen. Damals stiegen die Todeszahlen von Flüchtenden dramatisch, nachdem die italienische Regierung 2014 ihr Rettungsprogramm Mare Nostrum eingestellt hatte. Sechs Jahre später fordert die Organisation, inzwischen mit Vereinen in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz – noch immer und bisher vergeblich – eine durch europäische Staaten organisierte Seenotrettung. Denn auch 2020 verloren mindestens 983 Kinder, Frauen und Männer auf der Flucht aus Libyen ihr Leben im zentralen Mittelmeer oder gelten als vermisst.*

„Im Laufe des Corona-Jahres 2020 spitzten sich die politisch motivierten Behinderungen der Seenotrettung weiter zu“, sagt Jana Ciernioch, politische Referentin bei SOS MEDITERRANEE Deutschland. Im Frühjahr erklärten Malta und Italien ihre Häfen zur beginnenden Pandemie als „unsicher“, was einer Schließung gleichkam. Ab dem Sommer wurden fast alle Rettungsschiffe, auch die Ocean Viking, unter fadenscheinigen Begründungen durch europäische Behörden festgesetzt. Gleichzeitig sahen viele verzweifelte Menschen in Libyen trotz Pandemie keinen anderen Ausweg, als die gefährliche Flucht über das zentrale Mittelmeer zu wagen.

„Während in Europa im Angesicht der Pandemie das gesamte Leben der Solidarität und dem Imperativ des Rettens von Menschenleben untergeordnet wurde, galt dies nicht für die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen. Die massive Blockade der zivilen Seenotrettung, während Menschen weiter flüchteten und zu Hunderten ertranken, ist zynisch und menschenverachtend“, so Jana Ciernioch.

In ihrem 50-seitigen Jahresbericht zeichnet SOS MEDITERRANEE die Ereignisse und ihre Aktivitäten in diesem Ausnahmejahr nach. Lesen Sie zum Beispiel,

  • wie Rettungen und Gesundheitsversorgung auf der Ocean Viking unter strengen COVID-19- Hygienevorschriften möglich sind. Ein Interview mit Christine Schmitz, Krankenschwester an Bord;
  • wie die behördlichen Festsetzungen zahlreicher Rettungsschiffe während der Pandemie in die politische Strategie der Blockade ziviler Seenotrettung einzuordnen sind. „Krise in der Krise“, ein Beitrag von Jana Ciernioch, politische Referentin von SOS MEDITERRANEE Deutschland;
  • über die wichtigsten Ereignisse rund um die Seenotrettung im zentralen Mittelmeer seit der Gründung unserer europäischen Organisation 2015: „Gegen das Ertrinkenlassen“ – eine Chronologie.

Der Bericht skizziert auch zwei ausführliche Publikationen von SOS MEDITERRANEE aus dem vergangenen Jahr: „Schiffbrüchige Jugend“, Erfahrungsberichte unbegleiteter Minderjähriger an Bord, sowie „Völkerrecht über Bord. Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert.“ Beide Dossiers sind hochaktuell: Auf dem Rettungsschiff Ocean Viking waren Ende April 2021 die Hälfte der 236 aus Seenot Geretteten unbegleitete Minderjährige. Und bei einem Bootsunglück am 22. April 2021, bei dem die Crew der Ocean Viking nur noch im Wasser treibende Leichen vorfand, blieben die informierten Seebehörden untätig – mit 130 Toten als Folge.

*Quelle: IOM, Missing Migrants Project

HIER geht es zum vollständigen Jahresbericht 2020 (pdf)