Gerade in Deutschland habe sich das Bewusstsein festgesetzt, für die Entwicklung Afrikas verantwortlich zu sein, stellt Volker Seitz in einem Kommentar für FREILICH fest und wirft deutschen Politikern vor, den Afrikanern nicht zuzutrauen, ihre Probleme selbst zu lösen.
Es ist bald wieder Weihnachten. Die beste Zeit, um für den „guten Zweck“ die Spendentrommel zu rühren und sich als edler Retter Afrikas zu inszenieren. Viele Afrikaner, die ich kenne, verachten diesen Hang zum Paternalismus und Samaritertum. Prominenten Helfern geht es selten um das Wohl der Menschen, sondern um PR in eigener Sache. Kritik kommt ihnen kaum über die Lippen. Besonders in Deutschland hat sich das Bewusstsein festgesetzt, wir seien für die Entwicklung Afrikas zuständig. Seit 60 Jahren wird nicht so geholfen, dass die Helfer möglichst bald wieder abziehen können. Es widerspricht dem Sinn der subsidiären Hilfe, jemandem etwas zu geben, was er selbst erarbeiten könnte. So werden die Menschen zur Untüchtigkeit „erzogen“. Deutsche Politiker trauen den Afrikanern nicht zu, ihre Probleme selbst zu lösen. Deshalb nehmen kritische Afrikaner das Sendungsbewusstsein und den Moralismus längst nicht mehr ernst. Afrikaner sagen mir, dass es uns vor allem darum zu gehen scheint, beliebt zu sein. Sie nennen das „Woko-Haram“.
„Eine neue Form der geistigen Kolonisierung“
Deshalb möchte ich aus meiner kleinen Sammlung einige kritische Afrikaner zitieren, die diese oft aufgenötigte Hilfe verurteilen: Paul Kagame, Präsident von Ruanda, ist im Westen nicht populär, weil er Bevormundung verbittet: „Afrika braucht keine Babysitter. Je weniger sich die Welt um Afrika kümmert, desto besser geht es Afrika“. Solche Kritik an der Entwicklungshilfe stört die Entwicklungshilfe-Lobbyisten, die weiter aus den übervollen Töpfen – finanziert durch Schulden – schöpfen wollen. Meine Erfahrung legt den Verdacht nahe, dass bei stets gut gefüllten Kassen der geregelte Abfluss der Milliarden wichtiger ist als deren optimale Verwendung.
Mukoma wa Ngugi, Sohn des weltbekannten kenianischen Schriftstellers Ngugi wa Thiong’o („Herr der Krähen“), ist inzwischen selbst Schriftsteller. Er kritisiert: „Weiße Leute wollen immer schwarze Leute retten“.
Der nigerianisch-amerikanische Kunsthistoriker, Schriftsteller und Fotograf Teju Cole sieht Afrika als humanitären Erlebnispark. Den weißen Rettern gehe es vor allem um den emotionalen Kick: „The fastest growing industry in the US is the White Savior Industrial Complex. The white savior supports brutal policies in the morning, founds charities in the afternoon, and receives awards in the evening.“ („Die am schnellsten wachsende Industrie in den USA ist der Industriekomplex der weißen Retter. Der weiße Retter duldet morgens brutale Politik, gründet nachmittags eine Hilfsorganisation und bekommt abends dafür eine Auszeichnung.“)
Der Künstler und Schriftsteller Samson Kambalu aus Malawi rät afrikanischen Kindern, sich von Touristen fernzuhalten. „Sonst landet ihr noch auf dem Spendenaufruf irgendeiner Hilfsorganisation“. Außerdem hat er festgestellt, dass die Kinder auf den Fotos keine Schuhe tragen dürfen, denn sonst könnten sie nicht als arm gelten. „Ich trat einen Schritt näher zu den anderen Kindern, um im Bild zu sein, doch sie versuchte immer noch, mich rauszuschneiden. Schließlich gab ich nach. Ich schleuderte meine Schuhe von mir und stellte mich, die Hände in die Hüfte gestemmt, zu dem zerlumpten Haufen. Sie streckte den Daumen hoch. Aber insgeheim wischte ich ihr doch noch eins aus, weil sie dieses Bild nämlich garantiert nicht für einen Spendenaufruf verwenden könnte: So von sich eingenommen stand kein Mensch da, der Hunger litt.“
Paulina Chizianes aus Mosambik geht es eher um humanitäre Hilfe, aber mit ähnlichen Ergebnissen: „Die Fahne der Nächstenliebe flattert im Dorf auf dem Berg, gehisst von den Mitgliedern der Hilfsorganisationen und allen Menschen, die Gutes wollen und mit ihrem Wissen und ihrem Einsatz dazu beitragen, die Leiden der Menschen zu lindern. Die Menschenfreunde reichen ihre uneigennützige Hand von ihrem Podest herab. Die Hungernden, die in ihrem Abgrund auf dem Boden knien, empfangen die Hilfe mit erhobenen Händen. Wie beim Gebet. Sie freuen sich, zufrieden, das Manna des göttlichen Erbarmens zu erhalten … Sie bekommen Kleider, Decken, Medikamente, Maismehl, Seife, Fisch und Bohnen … Alle essen, bis sie satt sind, und vergessen die Arbeit auf dem Feld. Warum arbeiten, wenn diese guten Menschen uns alles geben? Wenn diese Nahrungsmittel zu Ende gehen, werden wir andere erhalten … Die Menschen nehmen ihre Aufgaben und Traditionen nicht mehr wahr. Sie warten auf Almosen, eine neue Form geistiger Kolonisierung“.
„Hört auf, uns zu helfen‘“
Der in Kamerun geborene NJ Ayuk ist erfolgreicher Buchautor und Geschäftsführer der Centurion Law Group, einer panafrikanischen Anwaltskanzlei mit Büros in Südafrika, Ghana, Kamerun, Mauritius und Äquatorialguinea. Das Magazin FORBES bezeichnet ihn als einen der einflussreichsten Menschen der Welt. Er sagt: „Heute morgen erst las ich einen Artikel über Hilfsgelder. Warum gebt ihr solche Gelder? Hört auf, uns zu ,helfen‘! Diese Gelder helfen uns nicht, sie machen uns faul, sie halten uns auf. Hier in Deutschland redet Ihr darüber, wie man Leute aus der Sozialhilfe herausbekommt. Aber wenn ihr nach Afrika schaut, fragt ihr Euch: Wie können wir ihnen mehr Hilfsgelder zukommen lassen? 600 Milliarden Dollar, die Afrika gegeben wurden, haben nicht einen einzigen Arbeitsplatz geschaffen!“
James Shikwati, Direktor des Interregionalen Wirtschaftsnetzwerks in Kenia, vergleicht Chinesen und Europäer beim Bau von Infrastruktur: „Sie fragen: Welche Straße soll von wo nach wo gebaut werden? Aber die Europäer prüfen erst, wie viele Insekten darüber laufen. Das funktioniert so nicht in Afrika.“
Asfa-Wossen Asserate schrieb: „Europa muss seine Afrikapolitik der letzten 60 Jahre infrage stellen, Milliarden an Entwicklungshilfegeldern sind in den letzten Jahrzehnten in den Schwarzen Kontinent geflossen. Aber die Lebenssituation der Menschen in den meisten afrikanischen Ländern hat sich kaum gebessert.“ Woran liegt das? Viel zu oft kommen die Entwicklungsgelder nicht bei denen an, für die sie bestimmt sind. In den Händen der herrschenden Kleptokraten wird das Geld zum Instrument des Machterhalts und zum Schmiermittel für die grassierende Korruption.“
Der Kenianer Meja Mwangi nimmt fehlgeleitete Hilfsprojekte, Korruption und die Lethargie afrikanischer Männer aufs Korn: „Kibogoyo hatte zu oft erlebt, wie viele Hilfsgelder in fehlgeplanten Projekten versickerten, die besser nie das Licht der Welt erblickt hätten. Er hatte erlebt, mit wie viel Trara ähnliche Projekte aus der Taufe gehoben worden waren, dann dahinsiechten und schließlich starben, noch bevor jemand überhaupt begreifen konnte, für wen oder was die Projekte eigentlich gedacht waren.“
Die in Kenia geborene Yvonne Adhiambo Owuor schreibt über den Brunnenbau, der bei den „Helfern“ allzu beliebt ist: „Sie brauchten dafür sechs Monate – anderswo baute man besser geplante Brunnen innerhalb von acht Tagen – und zogen einen hohen Metallzaun um die Baustelle, die von vier bis an die Zähne bewaffneten Kerlen grimmigen Blicks bewacht wurde. Als der Brunnen vor acht Monaten dann fertig gewesen war, hatten sie ihn mit halbherzigen Reden und Gesängen vor Delegationen aus aller Welt eingeweiht. Ein geschwätziger ranghoher Militär, dessen Uniformjacke über und über mit Orden gespickt war, hatte den Botschafter zu einem Band mit einer großen roten Schleife geführt, die dieser zur Eröffnung mit einer stumpfen Schere durchschneiden sollte. Und als das erste Wasser aus dem Brunnen geholt wurde und der Botschafter es kostete, verriet sein gequältes Lächeln den Inselbewohnern, dass er gerade erkannt hatte, was sie schon seit Jahrhunderten wussten: dass das Grundwasser auf Pate zu salzig war, um genießbar zu sein. Seitdem war der neue Brunnen nie wieder erwähnt worden.“
Yvonne Adhiambo Owuor, ebenfalls aus Kenia, macht sich über die Helfer lustig: „Entwicklungshelfer mit messianischem Funkeln in den Augen“, die „Love-Africa-Typen“, und fragt sich: „Ist er ein Brunnenbauer? Ein Armutsbekämpfer?“
Afrikaner auf verlorenem Posten
Ich könnte die Liste der Zitate mit prominenten Kritikern wie Felwine Sarr, Moeletsi Mbeki, Wole Soyinka, Dambisa Mayo oder José Eduardo Agualusa fortsetzen. Doch Afrikaner, die sich gegen die sogenannte Hilfe wehren, stehen auf verlorenem Posten. Zu viele verdienen gut daran und niemand kann für das Versagen verantwortlich gemacht werden.
Der gigantische internationale Entwicklungshilfeapparat ist weit von der Wirklichkeit entfernt. Afrika kann mit eigener Kraft vorankommen, nicht mit der ausgestreckten Hand. Ein schwerwiegender Fehler der „Entwicklungshilfe“ ist die Neigung, zu belehren und dabei die Meinungen und Potentiale der Betroffenen zu vernachlässigen. Hunderte von Strategiepapieren zeugen von Unwissenheit. Trotzdem wird die dringend nötige Fehleranalyse weiter aufgeschoben. Vieles ist in der Theorie sinnvoll, weckt aber in der Praxis falsche Erwartungen.
Würde es Wirksamkeitskontrollen von wirklich unabhängigen Stellen geben, müssten umgehend unzählige Durchführungsorganisationen ihre Arbeit einstellen. Aber ohne Entwicklungsprojekte und Aktivitäten auch der so genannten Nichtregierungsorganisationen wäre vor allem die Arbeitslosigkeit unter den Helfern besorgniserregend. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Akteure der „Entwicklungshilfe“ je fragen, ob ihr Produkt bei den Bedürftigen in Afrika auch ankommt, gebraucht und verstanden wird. Hilfe darf die Leistungsbereitschaft nicht untergraben. Doch die Hilfsindustrie scheint immer noch immun gegen Rückschläge. Das Geld muss um jeden Preis ausgegeben werden.
Wie schrieb der Chefredaktor der NZZ Eric Gujer am 1. Dezember 2023 unter dem Titel „Die deutsche Schizophrenie“ treffend: „Entweder dürfen Politiker mit Geld um sich werfen, oder die Welt geht unter“.
Hilfe in der bekannten Form mindert oder behindert die Leistungs- und Reformbereitschaft und erschwert es reformwilligen Politikern, Leistungen zu verlangen und Veränderungen herbeizuführen. Ja, wir sollten helfen, wenn es nötig ist, aber erst dann, wenn die Eigeninitiative an ihre Grenzen stößt. (Quelle: Freilich, mit frdl. Genehmigung des Autors Volker Seitz, Botschafter a.D., Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, dtv, 11. Auflage 2021)