Marokko: Berufliche Neuorientierungen im Aufwind

Marokko: Berufliche Neuorientierungen im Aufwind

In der marokkanischen Gesellschaft hat die Arbeitsplatzsicherheit oberste Priorität bei der Berufswahl. Sie ist der Heilige Gral für junge Berufstätige, die bereit sind, dafür viele Opfer zu bringen. Doch manche Menschen finden sich heute in dieser Vorstellung nicht mehr wieder und ziehen andere Kriterien bei der Wahl ihrer Tätigkeit vor – auch wenn das bedeutet, die Karriere komplett zu wechseln. Berufliche Neuorientierung findet in Marokko zunehmend ihren Weg.

Er hatte früher Zahlen im Kopf, jetzt sind es Haus- und Möbelentwürfe, die seine Gedanken beschäftigen. Die Worte kommen ihm noch schwer über die Lippen: Sofiane ist Inneneinrichter. „Ich bin 35 Jahre alt und Inneneinrichter. Das ist komisch zu sagen“, gesteht Sofiane. „Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich das so sage. Das ist das erste Mal, dass ich mich so vorstelle.“

Vor einigen Monaten hat er eine gut bezahlte Anstellung aufgegeben und sich in einem Bereich selbstständig gemacht, der nichts mit seinen Abschlüssen zu tun hat. „Ich war Buchhalter, ich habe eine Ausbildung als Buchhalter und Manager“, berichtet er. „Ich habe sieben Jahre lang in diesem Bereich gearbeitet. Die Wahrheit ist, dass es immer schwerer wurde, morgens aufzustehen und zu einem Job zu gehen, der überhaupt nicht dein Ding ist. Kurz gesagt, ich war nicht glücklich in dem, was ich gemacht habe.“

An diesem Morgen ist Sofiane auf einer Baustelle in einem gehobenen Viertel von Casablanca. „Wenn mein Kunde keine Lust hat, sich den Kopf zu zerbrechen, ruft er mich an, und dann bin ich da“, erklärt er. „Ich kümmere mich um alles, was mit Arbeiten im Haus und Einrichtung zu tun hat. Wir legen Herzblut in unsere Arbeit. Das ist wichtig.“

„Wenn es schwerfällt, morgens aufzustehen, ist das eine Art Depression“
In Marokko ist Sofiane eine Ausnahme. Eine sichere Anstellung aufzugeben, um eine berufliche Neuorientierung zu wagen, gehört noch nicht zur gängigen Praxis. „Meine Familie weiß nichts von meinem Berufswechsel. In einer marokkanischen Familie – niemals im Leben gehst du hin und sagst, dass du das Angestelltendasein aufgegeben hast“, erklärt Sofiane. „Das werden sie nie verstehen.“ Seine Familie würde sich eine stabile Lebenssituation für ihn wünschen: „Ein festes Gehalt, ein Haus auf Kredit, eine Frau, eine gute Frau, Kinder – und das war’s“, zählt er auf. „Davon war ich wirklich weit entfernt.“

In seinem Angestelltenleben hatte sich Sofiane selbst verloren. „Ich habe schwierige Zeiten durchgemacht, und man merkt das gar nicht direkt. Aber wenn es schwerfällt, morgens aufzustehen, wenn du Ausreden findest, um einen bestimmten Job nicht zu machen, ist das eine Art Depression“, meint er.

Sofiane hat wieder ein Lächeln im Gesicht – durch den Kontakt zu seinen Kunden, ob jung oder alt. Auf der Suche nach Sinn fühlt er sich nun viel erfüllter. Er hat eine Möbelmarke gegründet, Le Petit Colibri, und plant nun, einen Showroom und eine eigene Werkstatt zu eröffnen. Dann wird der Moment kommen, seiner Familie von seinem Karrierewechsel zu erzählen. (Quelle: RFI)