Tansania: „Loliondo blutet“ – Die Massai leiden unter Angriffen im Namen des Naturschutzes

Tansania: „Loliondo blutet“ - Die Massai leiden unter Angriffen im Namen des Naturschutzes„Loliondo blutet“: Eine SMS weckte mich am Morgen des 10. Juni. Dutzende erschreckende  Fotos von an Beinen, Rücken und Kopf verwundeten Massai füllten mein Handy. Eine Menge  Blut. Und dann die Videos, auf denen zu sehen ist, wie die Massai vor der Polizei weglaufen, während diese auf sie schießt. Sie sahen aus wie aus einem Kriegsgeschehen. Ich war  schockiert – wie so viele andere im Globalen Norden. Wie konnten die friedvollen Bilder nur von Zebras, Giraffen und Löwen, die das Serengeti-Ökosystem in den westlichen Köpfen hervorruft, in solch brutale Gewalt verwandelt werden? 

Die Massai wiederum wussten schon immer, dass sie sich eigentlich im Krieg befinden. Sie  haben mir erklärt: „Eure Naturschutzgebiete sind für uns Kriegszonen.“ Sie haben seit langem mit diesem Ereignis gerechnet. Seit Jahren versucht die Regierung, ein 1500 m2 großes Land zu  beschlagnahmen, um es für Trophäenjagd, Elite-Tourismus und Naturschutz zu nutzen. Die in  den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ansässige Otterlo Business Company (OBC) steckt  seit jeher dahinter und soll Berichten zufolge die kommerzielle Jagd in diesem Gebiet  kontrollieren. Sie bietet Jagdausflüge für die landeseigene Königfamilie und ihre Gäste an.

Die VAE sind nicht die Einzigen, die sich für das betroffene Gebiet interessieren. Dieses umgibt  den berühmten Serengeti Nationalpark, von wo die Massai bereits im Jahr 1959 von britischen  Kolonialist*innen vertrieben wurden. Naturschützer*innen, die in Tansania tätig sind, befürworten den rassistischen Festungsnaturschutz – so auch die in Deutschland ansässige  Frankfurter Zoologische Gesellschaft (FZG). Diese benennt die lokale Bevölkerung und ihre  Viehhaltung als zwei der Hauptbedrohungen für das Ökosystem. So verbreiten sie den Mythos der menschenleeren „Wildnis“, welcher auch der ursprünglichen Vertreibung der Massai als  Rechtfertigung zugrunde liegt.

Tourist*innen sind für die Massai ebenso gefährlich. Sie werden in den Medien, Dokumentarfilmen und Schulbüchern mit bestimmten Bildern gefüttert, die die Philosophie  der „Natur ohne Menschen“ verkaufen, sodass sie auf ihren Safari-Reisen dementsprechend erwarten, auf „wilde“ Tiere zu stoßen. Das bedeutet, die Massai haben nicht nur mit dem  Wildnis-Mythos zu kämpfen, sondern auch mit tief verwurzeltem Rassismus. Peter Greenberg, ein  bekannter Journalist (CBS News), war im April letzten Jahres mit dem Staatspräsidenten von Tansania auf dem Schauplatz der „Tanzania: the Royal Tour“ unterwegs – eine Fernsehserie, in  der die amtierenden Staatsoberhäupter zu persönlichen Reiseführern des amerikanischen  Journalisten werden. Darin bezeichnete er die Massai als „primitiv“. Ein Massai-Mann hat die  Situation folgendermaßen beschrieben: „Die tansanische Regierung möchte die Massai hier nicht haben, weil die Menschen, die herkommen, die Massai nicht sehen wollen. Früher haben  wir nicht so viel (Schlechtes) über den Tourismus gedacht, aber jetzt verstehen wir, dass der Tourismus Menschen mit Geld anzieht. Das veranlasst die Regierung dazu, zu denken: ‚Wenn 
wir die Massai umsiedeln, werden mehr Leute mit Geld kommen‘.“ 

Im Kontext der andauernden Angriffe auf den Lebensstil der Massai hat die tansanische  Regierung Anfang Juni letzten Jahres einen neuen Plan für das „Upgrade“ des Loliondo  Wildkontrollgebiets zu einem sogenannten Wildreservat angekündigt. In der Praxis bedeutet  das, dass Häuser und Weidegebiete der Massai verboten werden. Am 8. Juni 2022 fuhren dutzende Polizeiwägen und schätzungsweise 700 Beamte in Loliondo ein, um das neue Gebiet  zu markieren. Am 10. Juni wurde das Feuer auf die Massai eröffnet, weil sie gegen ihre  Vertreibung protestiert hatten: mindestens 18 Männer und 13 Frauen wurden angeschossen, und viele weitere wurden mit Macheten verletzt. Eine Person starb.

In den  darauffolgenden Tagen ging die Polizei von Haus zu Haus. Sie schlugen und verhafteten diejenigen, die Bilder von den Gewaltszenen verbreitet hatten oder, von denen sie annahmen,  dass sie an den Protesten teilgenommen hatten. Ein 90-jähriger Mann wurde von der Polizei verprügelt, weil sein Sohn beschuldigt wurde, die Schießereien gefilmt zu haben. Tausende Massai  sollen in den Busch geflohen sein, darunter auch Kinder. Viele weitere wurden verhaftet.

Für viele von Euch mag es absurd klingen, dass eine so bekannte indigene Gemeinschaft solch eine brutale Gewalt im Namen des Naturschutzes erleidet. Die Massai sind eine Hirt*innengesellschaft mit einer starken Verbindung zum Land. Ein Massai-Ältester sagte mir:  „Ich liebe diesen Ort und ich bin nicht bereit, ihn zu verlassen, weil er mein Zuhause ist. Ich bin  hier, seitdem sie mich aus Serengeti vertrieben haben. Das Land ist sehr gut und hat reichlich  Wasser. Es ist der einzige Ort, von dem ich vor meinen Kindern stolz behaupten kann: Das ist  euer Erbe.“ 

Für diejenigen, die die Geschichte des Naturschutzes kennen, ist all das wohl kaum eine  Überraschung. Die Brutalität in Loliondo enthüllt das wahre Gesicht des Naturschutzes:  tägliche Menschenrechtsverletzungen indigener Völker und lokaler Gemeinschaften, damit wohlhabende Tourist*innen jagen und auf „Safari“ in den sogenannten „geschützten
Gebieten“ gehen können. Diese Gewalt ist systematisch und Teil des gängigen rassistischen  sowie kolonialen Naturschutzmodells – ein Modell, dass zum Beispiel auch in Indien existiert.

Die Geschehnisse in Loliondo sollten uns allen eine Lehre sein. Indigene Völker leben seit  Generationen in den Gebieten mit der größten Biodiversität weltweit: Ausgerechnet diese Territorien gelten heute als wichtige Naturschutzgebiete, eben weil die ursprünglichen  Bewohner*innen so gut auf ihr Land und ihre Wildtiere aufgepasst haben. Wir können nicht  länger die Augen vor Menschenrechtsverletzungen verschließen, die im Namen des  Naturschutzes begangen werden. Dieses Naturschutzmodell ist zutiefst unmenschlich und  ineffektiv und muss sofort geändert werden. Geschützte Gebiete versäumen es, die  Biodiversität zu erhalten und entfremden stattdessen die örtliche Bevölkerung – jene, die am  besten wissen, wie sie ihr Land schützen können. Ein Massai-Anführer sagte mir einmal: „Ohne uns würden die Tiere getötet werden. Wir sind die wahren Naturschützer*innen. Das ist unser  Land, und wir werden es nicht verlassen.“  (Fiore Longo, Survival International, Bild: Michelle Maria/Pixabay)