Volker Seitz*: Betrachtungen zu „Oh, wie schön ist Afrika“ und dem „sensitivity reading“

Volker Seitz*: Betrachtungen zu „Oh, wie schön ist Afrika“ und dem „sensitivity reading“Ich habe viele Jahre in Afrika, in verschiedenen Ländern, gelebt. Deshalb hatte ich eigentlich nicht vor, die Reiseeindrücke des Musikers und Schriftstellers Sören Sieg zu lesen. Als ich jedoch von seinem wochenlangen Kampf mit den Erziehungsmaßnahmen einer „Sensitivity-Gutachterin“ des Verlages Penguin Randomhouse in FAZ-Online am 29. Januar 2023 (Postkoloniale Zensur) und in der Weltwoche am 16. Februar 2023 („Sie produzieren kolonial-rassistische Machtstrukturen“) las, war mein Interesse geweckt.

Nach langen zähen Verhandlungen konnte das Buch letzten Herbst mit einem Disclaimer-Vorwort, abgemilderten Formulierungen und gestrichenen Sätzen doch noch erscheinen.

Erfreulich: Ideologisch konnte der Autor nicht auf Linie gebracht werden. Die Zensorin hatte ursprünglich verlangt, dass der Autor sich in die „postkoloniale Literatur einzuarbeiten und das Buch neu zu schreiben“ habe. Der Verlag schrieb ihm, der Vertrag stamme aus einer anderen Zeit, nach den George-Floyd-Protesten hätten sie sein Buch gar nicht mehr eingekauft. Die „Sensitivity-Gutachterin“ bemängelte Betrachtungen, Haltungen, Termini und Überlegungen, die beleidigend für schwarze Menschen und generell strukturell benachteiligte Personen sein können. Gestrichen wurden Adjektive, die das Äußere von Personen beschreiben wie hübsch, schlank, füllig, groß, klein, stämmig, wuchtig, kräftig, hellhäutig, den Kopf glattrasiert und warmherzig. Vielen Leserinnen seien seine fast sexualisierenden und objektifizierenden Anspielungen unangenehm.

Das „sensitivity reading“ entdeckte Rassismus überall. Manchmal fühlte sich seine Gutachterin sogar berufen, seine Aussagen ins Gegenteil zu verkehren und Zitate der Gastgeber zu verfälschen. Die Anmerkungen waren so lang wie sein Manuskript.

Neuer Hautfarbenrassismus
Die Zensorin hält kritischen Umgang mit dem Kontinent für fragwürdig. Es erstaunt dann auch nicht mehr, dass sie den kürzlich verstorbenen Gunnar Heinsohn für einen „polnischen Soziologen“ und David Livingstone für einen zweiten Cecil Rhodes hält. Sie weiß auch nicht, dass Äthiopien nie eine Kolonie gewesen ist. Für den Verlag Randomhouse ist sie aber „eine geschätzte Lektorin und Gutachterin, die sehr wichtige Arbeit leistet.“ Das Buch erschien, aber mit den Wörtern „Stamm“ und „Schwarzafrika“ wäre es nicht erschienen. „This is Africa!“ – das seine afrikanischen Gastgeber und nicht nur die, als Stoßseufzer öfter ausrufen – wollte die Frau, die ihn für Rassismus sensibilisieren will, streichen. Sie erträgt die Sicht derjenigen nicht, für die sie angeblich Partei ergreift. Dazu sagte Pascal Bruckner: „Noch vor dreißig Jahren hatte man sowohl rechts als auch links noch genügend Vernunft, um über diesen Unfug lachen zu können.“ Er nennt die postkolonialen Bußübungen in Europa einen neuen Hautfarbenrassismus unter umgekehrten Vorzeichen: Die neue Inkarnation des Bösen ist der alte weiße Mann. Diese aktivistischen Gruppen verschreiben sich nach Bruckner derselben Logik der Segregation, die sie kritisieren.

Ich bin mir sicher, der Dame geht es nicht um Solidarität mit Afrikanern, sondern um die Zurschaustellung der höheren Moralität des eigenen Standpunktes. Mir sagen Afrikaner, dass unser wichtigstes Anliegen offenbar das Bedürfnis ist, beliebt zu sein. Sie nennen das Woko-Haram.

Couchsurfing bei 18 Gastgebern
Als ich das Buch las, habe ich mich gefreut, dass sich Sören Sieg offenbar weitgehend durchsetzen konnte. Seine Couchsurfing-Abenteuer in sechs Ländern (Äthiopien, Uganda, Kenia, Tansania, Südafrika und Ghana) bei 18 Gastgebern sind flüssig zu lesen. In dem Buch geht es nicht um Naturparks, Tiere, Safari-Tourismus, noch um Hilfsprojekte, und erst recht nicht darum, wie man „Afrika entwickeln“ kann, was auch immer das heißen mag. Woher nehmen wir eigentlich das Recht, durch Entwicklungs-„hilfe“ in das Leben von Menschen einzugreifen und es zu verändern, die auf andere Weise als wir ihre Existenz gestalten, mit anderen Wertvorstellungen und anderen Lebensumständen? Es geht in dem Buch vor allem um die Gastgeber und ihre Lebensgeschichten, ihre Ideen und ihre Kultur. Natürlich spielen bei den Gesprächen auch die Folgen von Unterschlagung und Korruption durch die Machteliten in den jeweiligen Ländern eine Rolle.

In manchen Wohnungen hält es Sieg keine zweite Nacht aus. Es sind vor allem die schlechten hygienischen Bedingungen (Essensreste in der Küche, in denen ein Wurm herumkriecht und frisst), schmutzige Toiletten (Lochklos) und zerrissene Moskitonetze. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Nicht nur einmal war ich bei Afrikanern der Mittelschicht eingeladen, deren Toiletten in einem lamentablen Zustand waren. Für viele Afrikaner haben eine gute Sanitärversorgung zu Hause und Hygieneanforderungen – leider auch in Krankenhäusern – noch keinen hohen Stellenwert. In Afrika habe ich viele hervorragende Ärzte kennengelernt, die das beklagen. Nicht erst, seit ein afrikanischer Kardiologe in Benin einem Kollegen das Leben gerettet hat, habe ich große Hochachtung vor diesen Ärzten.

Moskitonetze – oft von westlichen Hilfsorganisationen kostenlos verteilt – wurden auch zu meiner Zeit nicht schonend behandelt, selten repariert, die Imprägnierung nicht erneuert. Selbst gebildete Afrikaner gaben mir gegenüber ganz offen zu, dass sie es lästig fanden, darunter zu schlafen. Sie bekämen darunter keine Luft. Die Lerneffekte der Bevölkerung zur sachgerechten Anwendung der Netze waren entsprechend gering. Wenn Regierungen richtige Prioritäten setzen wie Äthiopien und Ruanda, dann geht die Zahl der Erkrankungen deutlich zurück.

Höchst lesenswert und unterhaltsam
Sören Sieg fällt auf, dass die Gastgeber wenig interessiert sind an Inneneinrichtung. Das Leben in diesen Ländern findet zum größten Teil draußen statt; innen ist es meist dunkel, kahle Wände, kaum Möbel, Glühbirnen als Wohnzimmerbeleuchtung. Das ist richtig. Kundenbedürfnisse in einem afrikanischen Land können sich erheblich von denen im Westen unterscheiden. So spielt auch bei den Einkommenseliten in Afrika zum Beispiel Design eine geringere Rolle, wichtiger ist es, dass Möbel und Geräte robust und erschwinglich sind. Da Bücher in Dörfern feucht und sandig werden, zerreißen und verkleben und damit unbrauchbar werden, gibt es dort kaum eine Buchkultur.

Aber auch in den Städten werden kaum Bücher gelesen. Der großartige senegalesische Schriftsteller Sembène Ousmane begann deshalb Filme zu drehen, um auch die ungebildeten Schichten zu erreichen. Mit seinen Büchern und Filmen, die sich gegen Polygamie, Zwangsehe und Unterdrückung der Frau mittels des Islam wenden, machte er sich bei den Verantwortlichen keine Freunde.

Sehr realistisch ist Sören Siegs Bemerkung: „Jeder will hier Geld von mir, es ist so erschöpfend. Manchmal subtil, manchmal aggressiv. Ich brauche eine Pause von dieser Muzungu-Cashcow-Existenz.“ (Muzungu werden vor allem in Ostafrika Weiße genannt).

Dem Autor ist ein gedankenreiches, höchst lesenswertes und auch unterhaltsames Buch gelungen. Ich habe keine Anlässe zum ernsthaften Widerspruch gefunden.
Sören Sieg; Oh, wie schön ist Afrika, Goldmann, 2022 
(Quelle: achgut.com, mit freundlicher Genehmigung des Autors Volker Seitz*)
*Volker Seitz war von 1965 bis 2008 für das deutsche Auswärtige Amt tätig, zuletzt als Botschafter in Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik und Äquatorialguinea mit Sitz in Jaunde. Er ist Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“ (dtv).  Inzwischen liegt das Buch aktualisiert und erweitert in elfter Auflage vor.