Das „Genocide Memorial“ in Kigali ist ein scheinbar friedlicher Ort: sonnige Terrasse, sattes Grün, ein weiter Blick vom Hügel auf das Tal. Aber unter diesem Hügel liegt das pure Grauen. 250 000 Leichen sind dort begraben – Frauen, Männer und Kinder, die bis 1994 in Kigali und Umgebung gewohnt haben. Es sind Menschen, die von ihren Mitmenschen getötet wurden – Schüler von ihren Lehrern, Patienten von ihren Ärzten, Nachbarn von ihren Nachbarn. Ihre Geschichten erinnern uns daran, was Menschen einander antun können.
Aber sie erinnern uns auch daran – deswegen danke, dass wir heute uns daran erinnern können -, dass die internationale Gemeinschaft in Ruanda versagt hat; denn sie hat nicht hinsehen wollen. In Deutschland wurden die Massaker zunächst als, ich zitiere, „Stammesfehden“ bezeichnet – mit unüberhörbarem, rassistischem Unterton -, manchmal auch als, ich zitiere, Kämpfe „im Busch“ – als ginge uns das alles nichts an, als ginge es nicht um Menschen. Als wären es nicht auch die Kolonialmächte gewesen – auch die deutsche Kolonialverwaltung -, die im 20. Jahrhundert dazu beigetragen hatten, Ruanda immer stärker in die vermeintlich ethnischen Kategorien von Tutsi und Hutu zu spalten.
Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass die Anzeichen für das Blutbad lange vor April 1994 erkennbar waren: die Trainingscamps der Milizen, die Macheten, die im ganzen Land verteilt wurden, der Hass und die Hetze im Radio, gerade auch die Übergriffe auf Frauen, auf Teenager, massenhafte Vergewaltigungen, und zwar systematisch. Und trotzdem haben auch 2 500 Blauhelmsoldaten auf diese Alarmsignale nicht reagiert, weil sie die Gewalt nicht entschlossen genug verhindern durften.
Für uns, für mich als deutsche Außenministerin ist die große Lehre aus Ruanda, dass wir Verantwortung tragen für unser Handeln genauso wie für unser Nichthandeln.
Das macht es manchmal so schwer, weil man es erst hinterher weiß. Es geht deswegen immer wieder darum, sich Dilemmata zu stellen, sich Entscheidungen zu stellen, auch wenn sie schwer sind, abzuwägen, was ein Handeln oder ein Nichthandeln für Folgen hätte. Und es geht darum, früher zu reagieren, wenn sich Anzeichen für eine Gewalteskalation zusammenbrauen.
Deswegen haben wir in den letzten 30 Jahren gelernt und Fehler der Vergangenheit behoben. Deswegen investiert Deutschland heute viel mehr in Mittel von Krisenprävention und Krisenfrüherkennung. Das Auswärtige Amt hat eine eigene Einheit aufgebaut, die Massendaten analysiert, Risikoanalysen erstellt und Krisenszenarien durchspielt. Wir leisten vorausschauende humanitäre Hilfe, um schlimmeres Leid zu verhindern. Deswegen sage ich auch heute – weil wir genau hinschauen müssen -, dass unser eigenes Versagen von vor 30 Jahren nicht dazu führen darf, dass wir jetzt wegschauen, wenn wir Warnsignale sehen, sondern dass wir wachsam bleiben müssen überall auf der Welt, gerade auch dort in der Region mit Blick auf die zunehmende eskalierende Gewalt im Ostkongo.
Und wir haben einen Bewusstseinswandel vollzogen, zu dem auch die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda beigetragen haben. Wir haben verstanden, dass es auch in unserem eigenen Interesse ist, dass wir uns einsetzen für eine Welt, in der die Stärke des Rechts gilt und nicht das Recht des Stärkeren, weil dieses Recht, weil diese Werte unsere Interessen sind, weil sie unser eigenes Leben sicherer machen.
Deshalb ist die zweite Lehre aus Ruanda für uns als Bundesrepublik Deutschland, dass Hinsehen bedeutet, auch die Täter nicht straflos davonkommen zu lassen.
Das Internationale Straftribunal für Ruanda hat im Auftrag des Sicherheitsrates 61 Täter verurteilt. Auch in Deutschland wurde Jahrzehnte später noch einer der Täter am Oberlandesgericht Frankfurt verurteilt. Das war neu in der Völkerstrafrechtsgeschichte. In Ruanda selbst wurden für Tausende Verfahren die traditionellen Gemeindegerichte wiederbelebt. Und das leitet uns heute: dieses Weltrechtsprinzip, dass wir auch bei jüngeren Völkermorden bei uns anklagen, wenn das vor dem Internationalen Strafgerichtshof nicht möglich ist.
Denn auch das ist die positive Lehre: Wenn die Opfer und ihre Nachfahren die Gewissheit haben, dass die Täter nicht straffrei davonkommen, können sie irgendwann vergeben. In Kigali, auf den Terrassen des Genocide Memorial, spürt man bis heute, wie schwer dieses Vergeben ist, wie tief die Narben sind. Man spürt aber auch die große Hoffnung, dass es sich lohnt, in Versöhnung zu investieren. An einer Wand des Memorials hoch über den Gräbern der Vergangenheit steht ein Satz, der mich bis heute bewegt, wenn man ihn dort liest. Ich zitiere: „Wenn Frieden nach dem Völkermord in Ruanda möglich ist, dann ist er überall möglich.“ (Rede von Außenministerin Baerbock zum Gedenken an den 30. Jahrestag des Völkermords an den Tutsi in Ruanda im Bundestag)