Buchtipp: Yasmina Liassine – UTOPIA ALGERIA

Buchtipp: Yasmina Liassine – UTOPIA ALGERIA

In ihrem Debütroman UTOPIA ALGERIA lässt Yasmina Liassine die vielfältigen Gefühlswelten und Lebensgeschichten der Menschen um sie herum lebendig werden. Im Mittelpunkt steht das Jahr 1962 – der Moment, in dem Algerien seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangt.

Die Autorin begegnet alten Freunden, Verwandten und Bekannten und erfährt dabei, wie tief die Wunden dieser Zeit sowohl bei Algeriern als auch bei Franzosen sitzen.

Im Zentrum steht ihre eigene Familiengeschichte: Ihre Mutter, eine Französin, ist mit einem Algerier verheiratet – ihre Töchter wurden oft als „die Töchter der Französinnen“ bezeichnet. Liassine beschreibt eindrucksvoll ihre persönliche Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen.

Die Geschichte von Youcef und Suzanne illustriert dieses Spannungsfeld besonders deutlich: Suzanne heiratet Youcef und zieht mit ihm nach Algerien. Dort wird sie von seiner Familie nicht akzeptiert. Sprachbarrieren und strikte gesellschaftliche Regeln erschweren ihr das Leben – mit Frauen kann sie sich nicht verständigen, mit Männern darf sie nicht ohne Begleitung sprechen. Die Geburt einer Tochter wird abwertend aufgenommen. Ihre einstige Freude am Schwimmen kann sie nur noch heimlich ausleben. Suzanne vereinsamt zunehmend.

Der algerische Widerstand wird nur kurz angerissen – etwa durch die Figur Laktar, der aktiv kämpfte und spurlos verschwand.

Liassine beschreibt auch die Aufbruchsstimmung im unabhängigen Algerien: Die französischen Kolonialherren – die pieds-noirs – müssen das Land verlassen, während junge Algerier, nach ihrem Studium in Frankreich, voller Hoffnung zurückkehren. Doch gleichzeitig entdeckt die Autorin ein Land, das in Widersprüche, Verdrängung und Unwahrheiten verstrickt ist.

Auf ihrer Reise zurück in das Land ihrer Kindheit stellt sie sich der Vergangenheit – und der Gegenwart.

Ein weiteres zentrales Porträt ist das von Simone, einer glühenden Anhängerin des „heiligen Algeriens“ (Sancta Algeria). Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in der Nachbarschaft. Für sie ist Frankreich der Ursprung allen Übels, Algerien hingegen ein Ideal. Sie nimmt ihre Kinder von der französischen Schule und schickt sie auf eine arabische – doch dort werden sie wegen ihrer hellen Haare und ihres Akzents ausgegrenzt.

Simone verliert sich zunehmend in ihrer Ideologie. Als der Alltag von Wasserknappheit und Lebensmittelmangel geprägt ist, stürzt sie in eine tiefe Depression. Ihr Bild vom perfekten Algerien zerbricht. Schließlich sucht sie Zuflucht in Ernährungstheorien und Sport, dem sie sich mit Leidenschaft widmet. Ihre Geschichte zeigt die Kluft zwischen Wirklichkeit und Wunschbild.

Der Roman stellt die zentrale Frage: Wohin steuert Algerien? Gibt es Platz für alle in diesem neuen, veränderten Land?

Verschleierung, religiöser Fanatismus, Gewalt, Einschüchterung und Hassreden bestimmen den Alltag.

UTOPIA ALGERIA ist ein lebendiges, aufrüttelndes Zeitzeugnis über eine entscheidende Epoche in den algerisch-französischen Beziehungen. Mit großer Feinfühligkeit zeichnet Yasmina Liassine ihre Figuren und lässt die komplexe Realität Algeriens greifbar werden.

Ein hochaktuelles Buch über kulturelle Identität, das Zusammenleben verschiedener Lebensentwürfe – und über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Geschichtsverständnisses.

Zur Autorin: Yasmina Liassine, geboren in Algier, lebt seit ihrem Studium in Paris. Sie ist Mathematikerin und Schriftstellerin. (Theresa Endres)

Yasmina Liassine
UTOPIA ALGERIA
Austernbank Verlag, Berlin
Übersetzt von Katharina Triebner-Cabald
144 Seiten, Hardcover
Preis: 20 Euro
ISBN: 978-3-946680-61