Erinnern an die Opfer des transatlantischen Sklavenhandels: Interview mit 2 kamerunischen Wissenschaftlern

Erinnern an die Opfer des transatlantischen Sklavenhandels: Interview mit 2 kamerunischen Wissenschaftlern
Das Sklavenhaus in Gorée, Senegal © ia

Jedes Jahr am 25. März bietet der “Internationale Tag des Erinnerns an die Opfer der Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels” eine wichtige Gelegenheit, an die Opfer des brutalen Sklavenhandels zu erinnern. Die Clustermitglieder Gilbert Ndi Shang und Thierry Boudjekeu nehmen den Gedenktag zum Anlass, um darüber zu sprechen, wie stark der transatlantische Sklavenhandel, der vor über 200 Jahren abgeschafft wurde, heute noch die afrikanischen Lebenswelten beeinflusst. Die Wissenschaftler erzählen auch von ihrem Cluster-Projekt “Black Atlantic Revisited”, das untersucht, wie dieser Phase der Menschheitsgeschichte in Afrika und Lateinamerika gedacht wird.

Es ist eine erschütternde Statistik: Über einen Zeitraum von mehr als 400 Jahren wurden über 15 Mio. Männer, Frauen und Kinder zum Opfer des transatlantischen Sklavenhandels. Der Sklavenhandel war die größte erzwungene Migration der Menschheitsgeschichte und ohne Zweifel auch die unmenschlichste. 96 Prozent der Afrikaner, die gewaltsam umgesiedelt wurden, landeten in Lateinamerika und den Karibischen Inseln. Zwischen 1501–1830 kamen auf einen Europäer vier Afrikaner, die den Atlantik überquerten, sodass die Besiedelung der Amerikas in dieser Zeit von der afrikanischen Diaspora dominiert wurde. Im Gedenken an die Opfer hat die UNESCO den 25. März zum Internationalen Tag des Erinnerns an die Opfer der Sklaverei und des transatlantischen Sklavenhandels ausgerufen, der jährlich begangen werden soll.

Dr. Gilbert Ndi Shang Kamerun und Thierry Boudjekeu arbeiten derzeit an dem Forschungsprojekt “Black Atlantic Revisited – African and South American UNESCO World Heritage Sites and ‘Shadowed Spaces’ of Performative Memory”, das vom Exzellenzcluster “Afrika Multiple” finanziert wird. Das Projekt untersucht, wie dem Thema Sklavenhandel im Rahmen verschiedener UNESCO-Weltkulturerbestätten in Afrika und Lateinamerika gedacht wird. Im Hinblick auf den bevorstehenden Gedenktag der UNESCO sprechen die beiden Wissenschaftler über den Einfluss des Sklavenhandels auf das heutige Afrika und über ihr Projekt.

Der transatlantische Sklavenhandel wurde vor über 200 Jahren abgeschafft. Wie stark hat diese Phase der Geschichte heute noch Einfluss auf das afrikanische Selbstverständnis?
Gilbert Ndi Shang: Diese Ära hatte auf das afrikanische Selbstverständnis einen beträchtlichen Einfluss, der bis heute noch anhält. Der Sklavenhandel machte aus den Afrikanern Objekte, die nicht mehr für sich selbst entscheiden konnten, und als Ware für die Europäer angesehen wurden. Die Menschen, die auf die Schiffe in Richtung Westen gezwungen wurden, waren oft die fähigsten und gebildetsten Afrikaner. Und plötzlich wurden sie darauf reduziert, entbehrliche Arbeitskräfte für die europäischen Plantagen in den Amerikas und der Karibik zu sein. Diese schreckliche Erfahrung demoralisierte und zersplitterte die afrikanische Gesellschaft. Als die europäischen Mächte schließlich mit dem Kolonialismus in eine neue Phase der Unterjochung und Ausbeutung eintraten, waren viele afrikanische Gruppen einfach zu entmutigt, um Widerstand zu leisten. Und heute befinden wir uns in der Ära Neo-Kolonialismus, was zu einem gewissen Grad eine neue Phase der Sklaverei darstellt.
Die junge Generation lernt über die Geschichte der Sklaverei in den Schulen. Aber manchmal ist es dann doch nur ein Thema wie jedes andere. Die wirkliche Dimension dieses Kapitels der afrikanischen Geschichte wird einem erst bewusst, wenn man alt genug ist, um die Zusammenhänge der jetzigen globalen Wirtschaft in einen historischen Kontext zu setzen.

Wie sehr ist die Geschichte des Sklavenhandels heute noch präsent im täglichen Leben Afrikas?
Thierry Boudjekeu: Der Sklavenhandel hatte auf den ganzen Kontinent tiefgreifende und allumfassende Auswirkungen. Wie sichtbar seine Spuren heute noch im Alltag Afrikas sind, hängt sehr davon ab, auf welche Arten des heutigen Zusammenlebens wir schauen. Die Natur heutiger Beziehungen zum Beispiel zwischen verschiedenen Gruppen kann oft immer noch zurückverfolgt werden auf ihr Verhalten während der Sklavenhandel-Ära. Vor allem Volksgruppen in Küstennähe nahmen damals oft unterschiedliche Rollen – Aggressoren, Antagonisten, Komplizen – gegenüber den europäischen Sklavenhändlern, aber auch gegenüber den Menschen im Hinterland ein. Hinzu kommt, dass heute noch verschiedene Formen der Sklaverei in Teilen des Kontinents zu finden sind, die uns leider täglich an die menschlichen Tragödien von früher erinnern, und uns bisweilen das Gefühl geben, dass wir nicht genug aus der Geschichte gelernt haben.

Man kann sich die Welt heute kaum vorstellen ohne den Einfluss der afrikanischen Diaspora in den Amerikas. Warum ist es trotzdem so wichtig, dem Sklavenhandel und seinen Opfern zu gedenken?
Gilbert Ndi Shang: Nun, jede Gesellschaft muss die eigene Vergangenheit studieren, um zu sehen, wo und wann der „Regen angefangen hat, auf uns einzudreschen“, wie Chinua Achebe sagt. Im Fall der Sklavenhandel-Ära ist es zum einen wichtig, die Vergangenheit zu kennen, um herauszufinden, welche Faktoren für den Zusammenbruch der afrikanischen Gesellschaften angesichts der europäischen Invasion verantwortlich waren, aber zum anderen auch, was genau zu ihrem Überleben und Stärkung beigetragen hat. Das gilt vor allem auch für die afrikanische Diaspora in den Amerikas. Die afrikanische Diaspora trägt ihre Geschichte im Blut und das Wissen über diese Geschichte ist von existenzieller Bedeutung. Denn das Stigma der Sklaverei mag verebbt sein, aber die Rassenbeziehungen in den Amerikas sind immer noch geprägt von den Nachwirkungen dieser Realitäten. Um zwischenmenschliche Beziehungen neu zu denken, müssen wir wissen, was genau dazu beigetragen hat, die Afrikaner, und mehr noch die Europäer, zu entmenschlichen.

Eine weitere Dimension stellen die kulturellen Phänomene dar, die aus dieser Geschichte entstanden sind, zum Beispiel in Form von Musikrichtungen wie Salsa, Jazz, Tango oder Calypso. Diese und andere kulturelle Eigenheiten entwickelten sich zunächst als kathartische Antworten auf die Einschränkungen des Plantagenlebens und bereichern nun seit Jahren die musikalische Kultur der Welt. Trotzdem sollten wir nicht vergessen, dass der Beitrag der afrikanischen Nachkommen in den Amerikas ökonomischer und politischer Natur ist.

In Ihrem aktuellen Forschungsprojekt “Black Atlantic Revisited” untersuchen Sie, auf welche Art und Weise verschiedene UNESCO Weltkulturerbestätten die Erinnerung an die Sklaverei implementieren. Was hat Sie veranlasst, zu diesem Thema zu forschen?
Thierry Boudjekeu: Unser Ziel ist es zu untersuchen, wie unterschiedlich dieser folgenschweren und tragischen Phase der Menschheitsgeschichte gedacht wird. Einerseits forschen wir in Afrika (Ouidah/Benin und Gorée/Senegal), anderseits in Lateinamerika (Cartagena/Kolumbien und Salvador/Brasilien). Darüber hinaus prüfen wir im Rahmen des Projekts, ob Literatur und andere Kunstformen beider Kontinente, die sich ebenfalls dieses Themas annehmen, eine ähnliche oder andere Sprache sprechen. Uns ist aufgefallen, dass es manchmal sehr gegensätzliche Erzählweisen bei den UNESCO Weltkulturerbestätten gibt. Das hat uns auf die Idee gebracht, das Gedenken an den transatlantischen Sklavenhandel zu untersuchen, da die Geschichte bei den offiziellen Stätten vielleicht nicht ganz richtig wiedergegeben wird.

Gibt es schon Zwischenergebnisse?
Gilbert Ndi Shang: Obwohl das als ein großer Aspekt unserer Forschung gedacht war, konnten wir bis jetzt wegen der anhaltenden COVID-19-Pandemie nur begrenzt Forschungsarbeit vor Ort leisten. So mussten wir uns auf geschriebene Texte fokussieren. Poesie, Romane und andere Kunstformen von afrikanischen Künstlern und solchen mit afrikanischen Wurzeln geben dem Leid eine Stimme und zeigen die schrecklichen Zustände, in denen die Sklaven leben mussten. Diese historischen Texte ermöglichen es uns, die komplexen Dynamiken dieser Zeit zu verstehen. Sie zeigen die Sklaven als Menschen und nicht als Objekte, wie das oft der Fall ist, wenn Geschichte nur als offizieller Diskurs verstanden wird und von offiziellen Stellen archiviert wird. Diese folgen oft der Logik der westlichen neoliberalen Wirtschaft, die überhaupt erst mithilfe des Sklavenhandels gegründet werden konnte. Darüber hinaus zeigen die Texte, die von Sklaverei berichten, oft, dass diese Ereignisse nicht immer nur in der Vergangenheit liegen, sondern noch bis heute in Afrika und auch in den Amerikas überleben.

Ist es überhaupt möglich, dass eine Gedenkstätte den Grausamkeiten, die vor 400 Jahren begangen wurden, gerecht wird?
Thierry Boudjekeu: Ein Gedenkort ist eine symbolische Geste an die Vergangenheit und hat die Bedeutung, die wir ihr zuschreiben. Der Ort oder das Monument muss die Stimmen der Opfer symbolisch einfangen und muss ihnen vor allem ihre Menschlichkeit zurückgeben, da es ja eine unmenschliche Geschichte war, die uns an diesen Punkt gebracht hat. Ein Ort des Gedenkens sollte jedoch nicht nur in die Vergangenheit gerichtet sein, vielmehr sollte er ein Signal für die Zukunft darstellen, um eine neue Art des menschlichen Zusammenlebens zu verkörpern. Sie sehen, ein Monument ist also durchaus auch utopisch. (www.africamultiple.uni-bayreuth.de)