Sea-Watch verklagt Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof

Sea-Watch verklagt Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof
Foto: David Lohmueller

Ein ernüchternder Rückblick: Am 3. Oktober 2013 kenterte vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa ein Boot mit 545 flüchtenden Menschen. Über 360 Menschen ertranken. Nur wenige Tage später, am 11. Oktober kam es zu einem weiteren verheerenden Schiffbruch vor Lampedusa – von den mehr als 400 Personen an Bord sind mindestens 200 Menschen ertrunken.

Diese Schiffbrüche jähren sich nun zum 10. Mal. 10 Jahre, in denen die EU kein staatliches Seenotrettungsprogramm aufgebaut hat, um dem Sterben auf dem Mittelmeer ein Ende zu setzen. 10 Jahre, in denen Zehntausende Menschen aufgrund der rassistischen EU-Politik ihr Leben verloren haben.

Es ist wichtig, Aufmerksamkeit auf diese Daten zu lenken, denn sie verdeutlichen: Das Sterbenlassen ist zum Normalzustand geworden und politisch gewollt. Kein Ausnahmezustand. Kein Versehen. Aber Sea-Watch vergisst die Toten nicht und steht in Solidarität mit Menschen auf der Flucht. Sie machen weiter, bis flüchtende Menschen Zugang zu sicheren Fluchtwegen haben!

Die Situation sorgte damals zumindest kurzzeitig für einen Aufschrei, und eine politische Richtungsänderung wurde versprochen. “Vergogna” [Schande] riefen die Anwohner:innen Lampedusas dem ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso bei seiner Ankunft auf der Insel zu. Er behauptete, Europa kann und darf dem, was vor dieser Insel passierte, nicht den Rücken zukehren. Im selben Monat noch startete das italienische Seenotrettungsprogramm Mare Nostrum. Eine Tat, die immerhin für kurze Zeit klar machte: Europäische Staaten dürfen Menschen in Seenot nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Doch nach nur einem Jahr, im Oktober 2014, wurde das staatliche Rettungsprogramm bereits wieder eingestellt. Warum? Italien fühlte sich von der EU in ihrer Verantwortung, Menschen aus Seenot zu retten, alleine gelassen.

Somit ist Sea-Watch Ende 2014 entstanden. Weil die Zivilgesellschaft dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen konnte. Auch mit dem neuen Rettungsschiff, der Sea-Watch 5, startet Sea-Watch nun bald in den Einsatz. Letzten Freitag hat sie den Hafen von Flensburg verlassen, nach monatelangen Umbauarbeiten und Vorbereitungen.

„Schande“ hätten die Anwohner:innen, Freiwilligen und Geflüchteten auch genauso gut der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni bei ihrem Besuch der Insel entgegen rufen können. Am 12. September 2023 erreichten über 5.000 Menschen in 112 Booten die Insel. Das für rund 400 Menschen ausgelegte, Gefängnis-ähnliche Aufnahmelager auf Lampedusa ist maßlos überfüllt. Die Essensverteilung ist zusammengebrochen, es gibt keine ausreichenden hygienischen Einrichtungen für die von der Flucht geprägten Menschen in diesem Lager. Dass es nach all diesen Jahren auf Lampedusa nach wie vor keine menschenwürdigen Aufnahmestrukturen für geflüchtete Menschen gibt, ist das Resultat rechter Politik.

Diese politisch bedingte Situation vor Ort bringt auch Solidarität und Widerstand. Aufgrund der inhumanen Zustände im Hotspot fordern die Menschen ihre eigene Freiheit und überwinden die Zäune des Lagers. Sie können sich zum ersten Mal seit langer Zeit frei(er) auf der Insel bewegen, treten mit Freiwilligen, Anwohner:innen und Tourist:innen in Kontakt. Die Teams der zivilen Luftaufklärung Airborne und des Rettungsboots AURORA berichten von solidarischen Gesten der Menschen auf Lampedusa.

Wir dürfen nie vergessen: Hinter diesen Zahlen stecken Lebensgeschichten; Menschen, die als letzte Option diese gefährliche Flucht auf sich genommen haben. Wir alle müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen und uns für langfristige Lösungen für Menschen auf der Flucht starkmachen. Zeitgleich sind wir wütend, dass europäische Regierungen für Grenzschließungen und Abschiebezentren plädieren und grundlegende Menschenrechte mit Füßen treten. Wir sind fassungslos, wie die europäische Grenzschutzagentur Frontex an völkerrechtswidrigen Pullbacks beteiligt ist – und dies ohne Konsequenzen bleibt? Deswegen hat Sea-Watch wir, gemeinsam mit FragDenStaat, Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof angeklagt!

Die Anhörung findet Mitte Oktober statt, das entscheidende Urteil wird aber erst Monate später erwartet. Die Klage beruft sich auf einen Vorfall von Juli 2021. Ein Boot wird aus der maltesischen Such- und Rettungszone von der sogenannten libyschen Küstenwache zurück nach Libyen verschleppt, nachdem eine Frontex Drohne mehrfach das Boot umkreist hat. Mit ihrer Anklage fordert man Transparenz und Rechenschaftspflicht, damit die Verantwortlichen juristisch zur Verantwortung gezogen werden können! (Sea-Watch)