Rom, die italienische Hauptstadt, ist im Zentrum des Geschehens. Einblicke in das Erleben des jungen Yabar schildert die somalisch-italienische Schriftstellerin. Sie erzählt von seinem Ankommen in Italien, den Schulerlebnissen und den Phasen des Erwachsenwerdens.
Yabar ist als Kind zusammen mit seiner Mutter und seinem Vater vor den Kriegswirren in Somalia geflohen. Mit enormen Anstrengungen gelingt es der kleinen Familie, sich in der multikulturellen Stadt einzurichten. Der Vater verlässt Rom und schließt sich den kämpfenden Truppen in Somalia an.
Yabar und seine Mutter finden Kontakt zu Tante Rosa und ihrer Tochter Sissi. Auch sie sind aus Somalia geflohen, ohne Kontakte zu somalischen Verwandten. Yabar, seine Mutter, Rosa und Sissi verbringen viel Zeit gemeinsam. Sie laufen zusammen, sprechen eingehend über das, was sie erleben. Diese Personen bedeuten für Yabar sehr viel. Die Tante erzählt Geschichten vom Wasser, welches lebenswichtig ist. Krokodile seien das notwendige Übel, man müsse lernen, damit umzugehen. Immer wieder vermittelt sie zwischen Yabar und seiner Mutter, wenn Probleme auftauchen.
Mit seiner Wahlschwester Sissi teilt er viele Gemeinsamkeiten. Nur, er ist schwarz, Sissi ist weiß. Seine gespürte Ablehnung überdeckt er mit schockierendem Verhalten. Das gipfelt darin, dass Sissi ihm vorwirft, nichts nehme er ernst, er verletze die Menschen, die ihn am meisten lieben.
Die Suche nach der eigenen Identität, nach dem Gesehen werden, ist sehr bedeutend für Yabar. Er will nicht immer mit der Frage konfrontiert werden, woher kommst du, er will akzeptiert sein, ohne bewertet zu werden.
Yabar will seine Geschichte erzählen. Denn wenn nicht erzählt wird, geraten Dinge in Vergessenheit. Auch die Beziehungen zu den Orten und zu den Menschen, in denen die Hauptfigur in Rom und London lebt, spielen eine wichtige Rolle in den Beschreibungen. Der Charakter und die Motive der im Mittelpunkt stehenden Personen werden detailliert geschildert.
Migration ist ein einschneidendes Erlebnis. Es stellt die Fragen nach der Zugehörigkeit, die für alle von Bedeutung sind. Die unterschiedlichen Erfahrungen, in einer marginalisierten Position zu sein, lassen Yabar nur schwer Vertrauen entwickeln.
Unerwartete Wendungen machen dieses Buch zu einer spannenden Lektüre. Seine Mutter schickt ihn zu den Verwandten nach London, eine mehr oder weniger erzieherische Maßnahme. Yabar akzeptiert diese Reise. Auch weil er hofft, mehr über das lange gehütete Geheimnis seines Vaters zu erfahren.
Das widersprüchliche Verhalten seiner Verwandten zwischen ihren Reden und Benehmen ist für ihn unerträglich. Für Yabar ist die Suche nach seinem Vater nicht mehr wichtig. Er reist früher und heimlich nach Rom zurück. Auch, weil ihm die Freundschaft mit Jessica bedeutsam geworden ist.
Er sieht nach dem Zusammentreffen mit ihr, dass seine Handlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der untragbaren Zustände schwinden.
Der Roman wirft drängende Fragen, auf die es scheinbar keine eindeutigen Antworten zu finden sind.
Yabar erfährt von einem Attentäter, der in Rom aufgewachsen ist. Von seinen Freunden versucht er mehr über die Hintergründe und die Motive zu erfahren.
Der Roman verknüpft aktuelle und in der Vergangenheit liegende Ereignisse mit spannend erzählten Szenen.
Der Blick, der Yabar zum Fremden macht, die Situation der Sprachlosigkeit, wie damit umgehen, wie mit der Gewalt, die ihm in unterschiedlichen Formen begegnet. Er liegt auf der Krankenstation, ohne sich erinnern zu wollen, was zu diesem Aufenthalt geführt hat. Yabar erlebt die Diskrepanz zwischen der Vision „das bin ich“, der Gegenwart, dem Zugehörigkeitsgefühl, seinen Erwartungen und seiner Selbstwahrnehmung.
Figuren aus der Kindheit tauchen wieder auf, alte Freundschaften werden von Neuem wichtig.
Die Mutter spielt eine zentrale Rolle bei der Reise in die dunkle Vergangenheit. Immer wieder prallen zwischen ihnen die Ansichten zu Themen wie Verantwortung, einen Platz finden in der Gesellschaft, aufeinander. Tante Rosa zeigt ihrer zusammengewürfelten Familie, dass es erforderlich ist, niemals die Tür zuzuschlagen, im Gespräch zu bleiben. Auch dann, wenn die Meinungen einfach nicht zusammenpassen.
Der Roman zeichnet ein Spiegelbild der Gesellschaft. Laute Sprachlosigkeit, grundlose Selbstsicherheit, Vorurteile und Ausgrenzungen. Die Autorin führt ein in die Gedankenwelt des Jungen. Sie begleitet ihn auf dem Weg zum Erwachsenwerden.
Mit ihrer feinen Beobachtungsgabe und ihrem Gespür für die unterschiedlichen Persönlichkeiten in ihren Lebenslagen lässt sie ihre Leser:innen in diese handelnden Personen eintauchen. Sie ermöglicht damit ihrem Leserpublikum einen Zugang zu komplexen, aktuellen Themen. Aber ebenso den zu unaufgearbeiteten Themen unserer Zeit.
Es scheint ihr wichtig zu sein, Interesse zu wecken für eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der sich Jeder, Jede dafür interessiert, wenn etwas nicht stimmt und dass es verschiedene Sichtweisen gibt.
Am Ende des Romans löst sich der Titel des Buches in erklärender Weise auf, mit einer Perspektive für die Zukunft, um ein lebendiges Zusammensein zu gestalten.
Die Autorin zeigt auf, dass ihr Roman ein guter Ort ist, um Erfahrungen wohlwollend und aufmerksam zu erzählen. Es kann ein Weg sein, mehr Vertrauen und Zuversicht für das Zusammenleben zu schaffen. (Theresa Endres)
Ubah Cristina Ali Farah
Der Kommandant des Flusses
aus dem Italienischen von Henrieke Markert
2024 Orlando Verlag Berlin
frauen weltkultur bewegung
215 Seiten
ISBN 98-3-949545-53-5
EURO 22,00