*Volker Seitz: Migrationsursachen: Spurensuche in Afrikas Literatur

*Volker Seitz: Migrationsursachen: Spurensuche in Afrikas Literatur

Wer die afrikanische Literatur ein wenig auf das Thema Migration abklopft, findet eine Fülle aufschlussreicher Zitate und Schilderungen, die über das Phänomen oft sehr viel mehr erzählen als westliche Polit-Analysen. Der Autor hat es getan.

Gerade weil viele Menschen versuchen, aus Afrika nach Europa (bisher auch USA) zu gelangen, ist es aufschlussreich, bisweilen die Literatur des Kontinents zu lesen. Manche brechen auf, weil sie von einem besseren Leben träumen. Weil sie Verwandte haben oder Leute aus der Nachbarschaft kennen, die es nach Europa geschafft haben und die nun – auch wenn sie nur Hilfsarbeiter zum Beispiel in Frankreich sind – vom Leben in der Ferne schwärmen und Geschenke mitbringen, wenn sie zu Besuch kommen.

Zumindest Migranten aus Staaten mit einer geringen Anerkennungsquote und ohne echte Verfolgungsgeschichte würden wohl kaum die teure und gefährliche Überfahrt wagen, wenn sie nicht wüssten, dass in Deutschland jeder bleiben darf (und versorgt wird), der es einmal hierhergeschafft hat. Erst wenn klare Signale ausgesendet werden, dass die Ankunft in Europa über illegale Einwanderung nicht mehr möglich ist, werden die Zahlen der Migranten, die im Mittelmeer sterben, zurückgehen.

Die Kamerunerin Imbolo Mbue schreibt in ihrem Roman „Das geträumte Land“, Kiwi 2018: „Bubakar, hatte Winston gesagt, sei nicht nur ein hervorragender, auf Einwanderungsrecht spezialisierter Anwalt mit zahlreichen Mandanten in allen Teilen des Landes, auch ein Experte darin, jeden Mandanten mit passendem und ihm Asyl garantierenden Verfolgungsgeschichte auszustatten.“ … „Ich habe erst im letzten Monat Asyl für die Tochter des Premierministers von irgendeinem Land in Ostafrika durchgeboxt.“ (Seite 27)

„Dieser Paysan hat bei uns zu Hause noch nie eine Wahlkabine von innen gesehen, sagt jetzt aber, dass er ein Mitglied der Social Democratic Front gewesen ist. Der legt denen Beweise vor, wie seine Freunde geschlagen und monatelang eingesperrt worden sind und dass man das auch mit ihm macht, wenn er nach Kamerun zurückkehrt. Jeder, der hier ins Land kommt, kann sich über das Leben in seinem Heimatland ausdenken, was er will.“ (S. 255)

(Gefälschte Dokumente waren zu meiner Zeit als Botschafter in Kamerun alltäglich und wurden von kamerunischen Behörden gerne dann toleriert, wenn die Fälschungen „nur“ bei ausländischen Vertretungen eingesetzt wurden. Neben der Tatsache, dass man auf einem bestimmten Markt in der Hauptstadt Jaunde so ziemlich jede kamerunische Urkunde kaufen kann, gab es zu meiner Zeit auch die Stadt Kumba in der Südwestprovinz, deren Urkunden durch ihren besonders hohen Prozentsatz an Fälschungen bekannt waren. Mir wurde berichtet, dass sich daran bis heute nichts geändert hat.)

„Außerdem kam ich schnell dahinter, dass man alles nicht Überprüfbare einfach erfinden konnte, indem man sich an die Vorstellung hielt, die wir meist von den Armen in fernen Ländern haben …“ Wenn man darüber nachdenkt, sind die Geschichten im Grunde alle gleich. Wir tauschen einfach nur die Namen der Länder aus. Manchmal auch die Religion, aber ansonsten gibt es kaum Unterschiede.“ (Der äthiopisch-amerikanische Schriftsteller Dinaw Mengestu in seinem Roman: “Die Melodie der Luft“, List 2012, S. 35)

„Ich nahm mir viel Zeit, um (in den Asylanträgen) die Grammatikfehler zu korrigieren, und anschließend verlieh ich den Berichten Farbe. Ich fügte erfundene Gefängnisstrafen ein. Machte Drohungen brutaler. Einem Mann, dem man in Wahrheit nur das Schlafzimmerfenster eingeworfen hatte, wurde in meiner Version gleich das ganze Haus niedergebrannt.“ (Dinaw Mengestu, wie oben, S. 142)

„Was auch immer sie in ihren Asylanträgen über Verhaftungen und Folter geschrieben hatten, viele von ihnen waren nur hier, weil es in Amerika bessere berufliche Perspektiven gab und ihre Träume sich leichter verwirklichen ließen. Und wer konnte ihnen das verübeln?“ (Dinaw Mengestu, wie oben, S. 217)

Die Nigerianerin Chika Unigwe schreibt in ihrem Roman „Schwarze Schwestern“, Klette-Cotta Tropen 2010, über die Vorgehensweise bei der Ausländerbehörde in Belgien, die über Asyl entscheidet:“ Ich bestelle dir ein Taxi, das wird dich im Zentrum absetzen. Sage denen, dass du aus Liberia kommst (sie kommt aus Nigeria). Hörst du? Behaupte, dein Vater war ein Mandingo-Stammesführer und die Soldaten von Charles Taylor haben euch nachts überfallen und deine ganze Familie getötet: Vater, Mutter, Brüder und Schwestern. Du bist entkommen, weil du dich im Küchenschrank versteckt hast. Du hast dich erst wieder herausgetraut, nachdem alles vorbei war und die Soldaten weg waren. Erzähle ihnen, du hättest gehört, wie die Soldaten schreien, dass noch einer aus der Familie fehle und sie den Auftrag hätten, alle umzubringen. Und dass sie deshalb wiederkommen. Mache ein trauriges Gesicht. Heule. Jammere. Raufe dir die Haare. Die Weißen lieben solche Geschichten. Sie hören es gerne, wenn wir erzählen, wie wir uns gegenseitig umbringen und uns in unseren absurden Kriegen die Köpfe abhacken. Je makaberer die Geschichte, desto besser.“ (S. 115)

Die weiterhin beträchtliche Zuwanderung nach Deutschland hat das Grundrecht auf Asyl ausgehöhlt. Es wird kaum noch unterschieden zwischen politisch Verfolgten und Sozialmigranten. Kein Zweifel: Jeder Mensch hat das Recht, zu versuchen, durch Auswanderung sein Leben und das seiner Familie zu verbessern. Die Frage ist nur, ob Deutschland und Europa verpflichtet sind, jeden Einwanderer aufzunehmen – unabhängig davon, warum er seine Heimat verlassen hat.

Flüchtlinge, deren Leben im Herkunftsland akut bedroht ist, müssen sich darauf verlassen können, hierzulande Schutz zu finden. Damit würde das Recht auf Asyl endlich wieder den Menschen zuteilwerden, für die es ausschließlich vorgesehen ist. Die seit 2015 vorherrschende, überaus großzügige Anwendung des Asylrechts muss dringend grundlegend überprüft werden. Dabei geht es vor allem darum, die schon oft festgestellten Missbrauchsfälle zu verhindern. (Quelle: achgut.com, mit frdl. Genehmigung des Autors *Volker Seitz, Botschafter a.D. und Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, dtv, 2021 (11. aktualisierte Auflage).