Buchtipp: „Koloniale Vergangenheit-Postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken“.

Buchtipp: „Koloniale Vergangenheit-Postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken“.26 Autor:innen haben sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu den Themen des Verhältnisses von Deutschland und Namibia geäußert. Die Beiträge beinhalten ein reichhaltiges Spektrum an Reflektionen und Einschätzungen.

An den Anfang wird der Umgang mit dem Völkermord in Deutsch-Südwestafrika gestellt. Zentral sei die Frage, welcher Umgang mit diesen ungeheuerlichen Gräueltaten an den Herero, den Nama, den Damara und den San führt dazu, dass innerhalb der namibischen Gesellschaft ein sozialer Prozess in Gang gesetzt werden kann.

Die Bearbeitung der Kolonialzeit durch die Deutschen wird im zweiten Kapitel erörtert.

Die Geschehnisse der kolonialen Vergangenheit seien in den Hintergrund gedrängt worden, angesichts der Aufmerksamkeit bzgl. der unvorstellbaren Verbrechen des Holocaust.

Dominic Johnson zeigt auf, dass im Vergleich zu anderen europäischen Kolonialmächten die deutsche Kolonialphase lange zurückliege. Kein afrikanischer Staatsmann sei von den Deutschen als Nachfolger eingesetzt worden. In Deutschland existiere eine kleine afrikanische Diaspora. Die Anerkennung der historischen Schuld, die Bitte um Vergebung am 100-jährigen Jahrestages des Völkermords durch die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Frau Wieczorek-Zeul, sieht er als ein weiteres Ereignis, prägend für die Beschäftigung mit der Vergangenheit.

Im Beitrag von Carola Lentz wird darauf verwiesen, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Erfahrungen mit dem Kolonialregime gemacht haben, vom Widerstand, Ausweichen bis zur Kollaboration.

Olaf Zimmermann hebt hervor, dass Namibia die einzige Siedlerkolonie war und Deutsche sich dort ansiedelten, die deutsche Sprache sei nach wie vor weit verbreitet, nicht zuletzt durch den Tourismus.

Das Humboldt Forum in Berlin, so wird weiter ausgeführt, habe die Auseinandersetzungen mit dem kolonialen Erbe und der Beschäftigung mit den kolonialen Sammlungen neu entfacht. Deutlich sei, die Verhandlungen mit der Regierung in Namibia sind schwierig, es gehe darum, wer ist der Ansprechpartner, wessen Worte zählen, wer ist wie legitimiert.

Ruprecht Polenz, Deutschlands Vertreter bei den Verhandlungen mit der Regierung von Namibia, beschreibt, dass Zehntausende Männer, Frauen und Kinder erschossen, erhängt, verbrannt, dem Hungertode oder Menschenversuchen ausgesetzt, versklavt, vergewaltigt, ihres Landes, ihres Eigentums, ihres Viehs, ihrer Rechte und ihrer Würde beraubt wurden (vgĺ. Karl Liebknecht, 1907). Die deutsche Regierung habe mit dem Vertrag den Anspruch, die Lebenschancen der ca. 200.000 Herero und Nama zu verbessern. Schwierig sei es, denn es gibt keine gewählte oder von allen Hereo und Nama anerkannte Vertretung.

55% der Bevölkerung, so Sevim Dagdelen, leben von einem Euro pro Tag. Fast der gesamte Reichtum des Landes liegt in den Händen weniger. Nach der namibischen Statistik sind etwa 70% des kommerziellen Farmlandes heute im Besitz von Nachfahren weißer Siedler*innen. Rund 53 % der 1,3 Millionen Hektar Farmland gehören deutschen Staatsangehörigen.

Im dritten Teil des Buches stehen 13 namibische Autor*innen im Mittelpunkt. Eindrücklich geschildert werden die Erlebnisse von Mama Penee. Jephta Nguherimo fordert, das Leiden seines Volkes anzuerkennen, die Erinnerung als legitim und gedenkwürdig einzustufen.

Horst Kleinschmidt verweist auf die Traumata der Opfer und das der Nachfahren der Täter. Wichtig sei es, sich der Wahrheit und dem Trauma zu stellen.

Dag Hinrichsen erzählt von Familienarchiven. Er dokumentiert die Gespräche mit älteren Frauen und Männern über die Geschichte von Zentralnamibia im 19. Jahrhundert.

Naita Hishoono meint in ihrem Beitrag, wie zufrieden ihre namibiadeutschen Mitbürger*innen seien, denn sie haben ihren Platz unter der Sonne gefunden.

Rakkel Andreas spricht aufgrund des Genozids von einer juristischen Pflicht. Eine moralische Pflicht sieht sie in der kleinen deutschsprachigen Bevölkerung, die vom Reichtum lebe, der aus dem Genozid resultiere.

Stephan Mühr beobachtet Opportunismus und Rassismus als Blockaden für die Versöhnungmöglichkeiten. Das ökonomische Ungleichgewicht, die ökologische Ausbeutung, so seine Analyse, beschleunigen die gegenwärtigen Probleme.

Erika von Wietersheim fragt, wie kann eine Versöhnung und Vergebung gelingen, wenn die Interpretationen der Vergangenheit so weit auseinanderklaffen.

Silvia Schletttwein fordert dazu auf, die eigene Geschichte zu erzählen, sich gegenseitig zu zuhören; auch wenn es unbequem sei. Versöhnung ist für sie ein Prozess von zwischenmenschlicher Begegnung und Dialog.

Den Abschluss dieses Kapitels bilden die Reden von vier Abgeordneten vor dem Parlament im Oktober 2021.

Es ist noch nicht abzusehen, wann der Bundespräsident die Bitte um Entschuldigung vorbringen kann. Viele offene Fragen stehen im Raum. Erinnerungen reichen nicht aus, es gehe um Gerechtigkeit, so im Vorwort dieser Neuerscheinung.

Das Buch bietet eine wichtige und interessante Lektüre in der Neubestimmung eines der viel diskutierten Verhältnisse zwischen zwei Staaten.

Im Anhang sind Kurzbiographien der Autor*innen aufgelistet. (Theresa Endres)

Hennig Melber/ Kristin Platt (Hrsg.) Koloniale Vergangenheit-Postkoloniale Zukunft ?
Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken
252 Seiten, Brandes &Apsel, Frankfurt, 2022
ISBN 978-3-95558-321-7
Euro 29, 90