Auf dem Weg durch die Sahara sterben jedes Jahr tausende Migrant:innen. medico unterstützt das Projekt Border Forensics, das die Hintergründe analysiert und hier eine eine exklusive Zwischenbilanz seiner Arbeit zieht.
Am 30. Juni 2022 wurden die Leichen von zehn Menschen, auf der Reise durch den Niger, in informellen Gräbern in der Nähe der Stadt Dirkou, mehr als 400 Kilometer von der Grenze zu Libyen entfernt, gefunden. Am 6. Juli wurden 44 Migrant:innen aus demselben Gebiet gerettet, nachdem sie zwei Tage zuvor in der Wüste eine Fahrzeugpanne erlitten hatten. Eine ähnliche Geschichte ereignete sich im April, als 25 Männer, Frauen und Kinder nach drei Tagen ohne Nahrung und Wasser aus der Wüste gerettet werden konnten. Diese Fälle haben Schlagzeilen gemacht. Es sind aber nur drei stellvertretende Schicksale für tausende Fälle von Tod, Verschwindenlassen und Rettung, die sich seit 2015 bei der Durchquerung der Sahara-Wüste ereignet haben.
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit 2015, als die nigrische Regierung auf Betreiben der Europäischen Union das berüchtigte Gesetz 2015-036 verabschiedete, mehr als 5.000 Menschen ums Leben gekommen und mehr als 2.000 aus der Wüste im Niger gerettet worden. Die Verabschiedung des Gesetzes markierte dabei den Beginn einer Ausweitung von Grenzschutzpraktiken. Das Gesetz ist Teil eines größeren Pakets von Sicherheitsmaßnahmen, die das gesamte nigrische Territorium, insbesondere die Region Agadez, erfassen. Sein Wirkungsbereich umfasst die Städte, Dörfer, Verkehrspunkte und die Hauptverkehrsadern, die nach Agadez führen und die Teil von Flucht- und Migrationsrouten sind. Die Gemeinsame Ermittlungsgruppe (JIT= Joint Investigation Team), die sich aus nigrischen, französischen und spanischen Polizeibeamten zusammensetzt wurde und irreguläre Migration und Menschenhandel bekämpfen soll, ist aktuell Hauptinstrument für deren Umsetzung.
Ein Blick zurück
Vor der Einführung des Gesetzes lebten 6.000 Nigrer:innen vom legalen Transport von Migrant:innen. Mit der Verabschiedung wurden sie über Nacht zu „Schmugglern“ und „Menschenhändlern“. In den folgenden Monaten wurden viele Personen, die bis dato an der Beförderung und Unterbringung von Migrant:innen beteiligt waren, mit hohen Geldstrafen belegt, verhaftet und ihre Fahrzeuge beschlagnahmt. Eine Kriminalisierung, die ihre Beziehung zum Staat und den Möglichkeiten des eigenen wirtschafltichen Auskommens gewaltsam neu bestimmt haben. In der Folge hat das zu wachsender Not und wirtschaftlicher Unsicherheit unter Nigrer:innen in der ganzen Region geführt. Diese mussten nun ihrerseits nach alternativen Einkommensquellen suchen , darunter die Arbeit in Goldminen oder die Arbeit in Nachbarländern des Niger.
Diese abrupten und harten Strafen haben zugleich eine tödliche Auswirkung auf die Migrant:innen, die auf solche Dienste angewiesen sind: viele erfahrene Fahrer haben das Geschäft verlassen und wurden durch weniger erfahrenere ersetzt. Geringere Kenntnisse über die Durchquerung der riesigen Sahara-Wüste und die Notwendigkeit alternative Routen nehmen zu müssen, um die Wahrscheinlichkeit einer Festnahme zu reduzieren, erhöhen die Gefährdung von Migrant:innen erheblich. Die Routen selbst sind an sich gefährlicher geworden und die Fahrer verlassen die Autos, wenn sie sich mit dem Risiko konfrontiert sehen, von Sicherheitskräften aufgegriffen zu werden. Die Fahrgäste bleiben dann verlassen in der Wüste zurück. Darüber hinaus hat die intensive Kriminalisierung die benötigten Transportnetzwerke in den Untergrund gedrängt. Familienangehörige haben so noch weniger Zugriff auf Informationen, wenn ihre Angehörigen nicht am nächsten Zielort ankommen.
Mit Unterstützung von medico hat Border Forensics (BF) ein Team aus Geodatenanalyst:innen, Geograph:innen und Wissenschaftler:innen zusammengestellt, um die Bedingungen zu untersuchen, die durch das Gesetz 2015-036 neu geschaffen wurden. Ein besonderes Augenmerk liegt darauf, wie sich das Gesetz an wichtigen Migrationsknotenpunkten in der Region Agadez räumlich auswirkt. Ein ausführlicher Bericht wird im April von border forensic veröffentlicht warden. Er wird die neuen Methoden und Formen der visuellen Analyse darstellen, die wir entwickelt haben, um das weithin akzeptierte Narrativ zu irritieren, das „Schmuggler“ als alleinige Schuldige bei den Todesfällen von Migrant:innen darstellt. Unsere Darstellungen werden deutlich machen, wie die von der EU unterstützte nigrische Politik, die aus dem Gesetz 2015-036 resultiert, zu immer gefährlicheren Bedingungen für Migrant:innen geführt hat, ohne dass jemand für diese Politik zur Rechenschaft gezogen wird oder ihre Opfer Gerechtigkeit erfahren.
Verlagerung der Verantwortung
Das vorgefertigte Narrativ des „skrupellosen Schmugglers“ ist Teil eines globalen Trends, mit dem Regierungen die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen und Todesfälle beim Grenzübertrit, die durch die Militarisierung und Sicherung der nationalen Grenzen entstehen, zurückweisen. Es ist auch ein vorgefertigtes Narrativ, das die kulturellen Besonderheiten und den historischen Kontext eines bestimmten Ortes außer Acht lässt. Im Fall der Sahara ist es eine eurozentrische Perspektive, die die vielschichtige Geschichte der Mobilität und Entwicklung in der Region ausblendet.
Ein großer Teil dieser Narrativ-Stränge haben sich in der Region Agadez verdichtet. Durch das Gesetz 2015-036 wurden neue rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, die soziale Infrastruktur und die Transportökonomie durch die Sahara in den breiteren Rahmen von Bedrohung, Sicherheit, kriminellen Aktivitäten, sowie terroristischen Netzwerken und Schmuggel, einordnet. Wie Julien Brachet dokumentiert hat, gab es eine dramatische Veränderung gegenüber den Tagen der „agencies de courtage“, als Reisebüros in Agadez mit ausdrücklicher Genehmigung der Regierung gegründet wurden, um diejenigen, die Dienstleistungen für Migrant:innen in der Sahara anboten, davon abzuhalten, ihr Geschäft auf illegale Aktivitäten auszuweiten.
Zusammenarbeit zwischen dem Niger und der EU
Die Umsetzung des Gesetzes 2015-036 erfolgte zwar abrupt, aber Tendenzen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Niger hatten bereits in den Jahren zuvor begonnen, sich mit ähnlichen Bemühungen der Europäischen Union zu decken. Diese Tendenzen waren durch eine Reihe von Katastrophen gekennzeichnet, die eine umfangreiche nationale Reaktion und einen enormen Fluss von EU-Mitteln in Nigers Sicherheitsbemühungen auslösten. Im Jahr 2013 machte beispielsweise der Tod von zweiundneunzig Nigrier:innen aus dem Département Kantché Schlagzeilen. Bei den Opfern handelte es sich überwiegend um Frauen und Kinder, deren Fahrzeug südlich der Grenze zu Algerien liegen geblieben war.
Die Migration von Frauen und Kindern aus dem Département aufgrund wirtschaftlicher Unsicherheit wurde als „Kantché-Phänomen“ bekannt und veranlasste die nigrische Regierung, Maßnahmen zur Einschränkung der Mobilität ihrer Bürger:innen zu ergreifen. Zwei Jahre später, im April 2015, ereigneten sich vor der libyschen Küste innerhalb von zwei Wochen zwei Schiffsunglücke mit insgesamt mehr als 1.100 Menschen, was zu breiter Kritik internationaler und humanitärer Organisationen an europäischen Politiker:innen führte. Im selben Monat gab der Rat für Außen- und Innenpolitik der Europäischen Union eine Zehn-Punkte-Antwort mit Maßnahmen heraus, die von den 28 Mitgliedstaaten ergriffen werden sollten. Darin wurden ausdrücklich verstärkte Initiativen im Niger genannt.
Kurz darauf, im November 2015, trafen sich europäische und afrikanische Staatsoberhäupter auf dem Migrationsgipfel in Valetta und richteten einen sogenannten Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika ein. Eine Investition von 289 Millionen Euro in die Fähigkeit Afrikas, Migration einzudämmen und um zu verhindern, dass Afrikaner:innen in Libyen die Küste des Mittelmeers erreichen. Die Migrant:innen, die in den Niger reisen oder ihn durchqueren wollen, sind jedoch keineswegs nur in europäische Richtung unterwegs. Für die meisten Migrant:innen liegt das Ziel in Afrika selbst. So sind von der Gesamtzahl der westafrikanischen Migrant:innen weniger als 10-20 % auf dem Weg nach Nordafrika und Europa.
Die nigrischen Kontrollmechanismen sowie die EU-Politik zur Externalisierung ihrer Grenzen haben die Migrationsdynamik auf den Routen quer durch die Sahara in Westafrika stark beeinträchtigt, und zwar weit über das Ziel hinaus Migrant:innen auf dem Weg nach Europa aufzuhalten. Die Übernahme der Mentalität des EU-Grenzregimes hat dazu geführt, dass das Recht der ECOWAS-Bürger:innen (ECOWAS = Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) auf Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten verletzt und die regionale Einstellung zur Freizügigkeit verändert wurde, indem EU-Grenzen nach Westafrika externalisiert wurden. Und das mit begeisterter Unterstützung der nigrischen Regierung selbst, die ihrerseits versucht, die Mobilität der Bürger:innen einzuschränken.
Diese Maßnahmen haben sich auch in der Zivilgesellschaft verankert: Die Bevölkerung von Agadez geht allmählich von ihrer bekannten Gastfreundschaft gegenüber Migrant:innen zu einer Logik der Feindseligkeit über. Im Juni 2022 wurde der Präsident des Regionalrats von Agadez, Mohamed Anacko, mit den Worten zitiert, dass Agadez „von denjenigen, die in ihren eigenen Ländern verfolgt werden, als Belohnung nichts als Undankbarkeit und Respektlosigkeit erfahren hat“. Derartige rechtsextreme Diskurse, die in Europa weit verbreitet sind, haben in der Region zugenommen. Sie werden von der Furcht vor einem vermeintlichen Druck auf die begrenzten sozialen Dienstleistungen geschürt. Durch die jüngste algerische Abschiebe-Praxis in die Region, wurde der Zustrom libyscher Rückkehrer:innen und die Zahl der Migrant:innen, die sich in Agadez in einem ständigen Limbo befinden, noch verschärft.
Visualisierung einer Gegenerzählung
In diesem Rahmen versucht die von Border Forensics durchgeführte Untersuchung zu dokumentieren, wie das Gesetz 2015-036 entlang eines Abschnitts einer der vielen sich ausbreitenden Migrationsrouten durch die Sahara in Agadez umgesetzt wurde. Unser Ziel ist es, die zahlreichen Aussagen von Migrant:innen und Fahrern zu untermauern, die spezifische Formen von Gefahren erleben. Während es zahllose Berichte über Inhaftierungen, erschütternde Reisen und verlorene Menschenleben in Agadez und darüber hinaus gibt, mangelt es an soliden und umfassenden Daten, die als Grundlage für den Nachweis der katastrophalen Folgen des Gesetzes 2015-036 dienen können. Wir haben die vorhandenen Teildatensätze mit den von uns selbst erstellten Geodatensätzen verknüpft, um ein umfassenderes Bild dieser Folgen erhalten zu können.
Der kommende ausführliche Bericht wird im Detail zeigen, das wir eine umfassende räumliche Analyse durchführen, um die Auswirkungen der unzähligen Formen der Grenzsicherung auf die Routen der Migrant:innen in der direkten Umgebung von Séguédine, Madama und Toummo an der libyschen Grenze zu dokumentieren. Wir wollen mit unserem Ansatz eine Gegenerzählung zu Rhetorik des „skrupellosen Schmugglers“ bieten, indem wir unsere Untersuchung von einzelnen Personen und ihren Motiven weg auf die spezifischen räumlichen Bedingungen lenken, die durch die Politik der Regierung geschaffen wird. Zu diesem Zweck machen wir uns die Techniken von Überwachungsstaaten wie Fernerkundung und die Verwendung hochauflösender Satellitenbilder zu eigen und nutzen sie für eine gerechtere Erklärung. Ursache für das massenhafte Sterben und Verschwinden von Migrant:innen in der Region ist die nigrische Politik, die durch die Komplizenschaft und Unterstützung der EU umgesetzt wird.
Die von uns entwickelten Methoden umfassen Fernerkundungstechniken, um zu dokumentieren, wie sich irreguläre Routen in Korrelation mit dem Auftauchen von Kontrollpunkten, Polizeistationen sowie Polizei- und Militärpatrouillen ausbreiten. Wir haben diese Daten mit einer Sichtfeldanalyse verglichen, um die Beziehung zwischen dem Risiko, erwischt zu werden, und der Entfernung die Fahrer zurücklegen müssen, um nicht so leicht entdeckt zu werden, einordnen zu können. Auf dieser Grundlage haben wir die Überlebenschancen von Migrant:innen dokumentiert, die in solchen Entfernungen gestrandet und gezwungen sind, zu Fuß Hilfe zu finden, sei es aufgrund einer Fahrzeugpanne oder der Flucht eines Fahrers, der sich so der Verhaftung durch Sicherheitskräfte entziehen will. Wir interpretieren „Überleben“ in diesem Szenario, indem wir das Ausmaß der Dehydrierung, gemessen am Schweißverlust, analysieren, wenn jemand von einem beliebigen Punkt auf diesen unregelmäßigen Routen zu einem Ort mit potenzieller Rettung oder Wasserquellen laufen muss.
Die Manifestation der Grenzsicherung an jedem dieser Orte entlang dieser Achse variiert von französischen Militärbasen über von Milizen besetzte Kontrollpunkte bis hin zu Stationen nigrischer Sicherheitskräfte. Irreguläre Routen, die solche Punkte an jedem Ort umgehen, erscheinen und verschwinden auch wieder, parallel zu Schlüsselmomenten ihrer “Sicherung”. Die von uns entwickelten Methoden sind ein Baustein, der erweitert, angepasst und auf ein ganzes Spektrum von Grenzpraktiken angewandt werden kann, um die direkten Auswirkungen der Grenzsicherung auf die Sicherheit von Migrant:innen auf ihrer Reise durch die Sahara sichtbar zu machen.(Border Forensics/medico international)