*Volker Seitz: Ist Demokratie das einzig mögliche Modell für Afrika?

*Volker Seitz: Ist Demokratie das einzig mögliche Modell für Afrika?

Wir sollten den afrikanischen Gesellschaften überlassen, ihre eigenen politischen Systeme zu bilden. Es ist nicht unsere Aufgabe, den schwarzen Kontinent nach unserem Bild zu formen.

Nach Jahrzehnten so genannter humanitärer Interventionen und besonders von Frankreich orchestrierter Regimewechsel und einflussreicher Strippenzieher französischer Afrikapolitik (siehe Achgut.com vom 22.11.2024: Frankreichs Afrika-Geldbote packt aus), herrscht in Afrika ein tiefes Misstrauen gegenüber westlichen Doppelstandards.

Seit 1990 ist auf Druck des Westens eine angebliche Demokratisierung auf dem Kontinent vorangeschritten. Aber auch eine demokratische Ordnung ist allein noch keine Garantie für die Herstellung sozial und politisch gerechter Verhältnisse.

Anfang der Neunziger Jahre wechselten viele afrikanische Staaten mit hochgradiger Beflissenheit – aufgrund realitätsferner Versprechungen des Westens – zu formaler Demokratie. Mit wenigen Ausnahmen (Eritrea, Somalia, Swasiland) führen afrikanische Länder heute Wahlen mit mehreren Parteien durch. Auch wenn wir überzeugt sind, dass Demokratie der beste Kompromiss des Zusammenlebens ist, den wir gefunden haben, muss gute Staatsführung in Afrika nicht ausschließlich nach westlichen Kriterien geschehen. Wahlen allein machen bekanntlich noch lange keinen Rechtsstaat aus. Wahlen finden in vielen afrikanischen Staaten in Verbindung von autoritärer Herrschaft statt. In einigen Ländern gibt es die „Demokratie“ zwar im Namen, aber nicht in der Substanz. Die meisten Länder sind von echter Gewaltenteilung weit entfernt. Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen beschränkt sich in der Regel darauf, Leitungspersonal zu wählen.

Dies wird bei uns nicht diskutiert, das wäre offenbar politisch nicht korrekt. Das Parteiensystem in zahlreichen afrikanischen Ländern ist noch sehr stark von ethnischen Zugehörigkeiten geprägt. Das Potenzial, dass so etwas instrumentalisiert wird, ist groß. Zahlreiche der bisherigen Regierungswechsel in Westafrika wurden durch Putsche und Gegenputsche herbeigeführt.

Alternative: Entwicklungsdiktatur
Der Staatspräsident von Ruanda, Paul Kagame, orientiert sich am Stadtstaat Singapur. Dort wurde bewiesen, dass wirtschaftliche Liberalität mit Entwicklung, Wohlstand und erfolgreicher Armutsbekämpfung einhergeht. Ruanda hat inzwischen, trotz der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, Vorbildcharakter in Afrika, weil das Land nicht in Korruption erstickt. In keinem anderen Land Subsahara-Afrikas beurteilen Beobachter die Entwicklung unter anderem des Bildungs- und Gesundheitswesens und der Verwaltung so positiv wie in Ruanda.

Der britische Politologe Colin Crouch beschreibt in seinen Buch „Postdemokratie“ die westliche Demokratie als eine Art Theater, in dem die wesentlichen Entscheidungen zunehmend hinter der Bühne durch im Grunde nicht kontrollierbare Technokraten getroffen würden, während demokratische Verfahren nur noch die für das Publikum inszenierte Schauseite seien.

Wir dürfen nicht von dem Glauben durchdrungen sein, dass der Wertekatalog des Westens überall als überlegen angesehen, angestrebt und daher gerne angenommen wird. Eigene Wertvorstellungen und politische Verhältnisse können wir nicht dorthin exportieren, wo sie von den Menschen vor Ort abgelehnt werden, weil sie ihren kulturellen Prägungen widersprechen und für die sie kein Verständnis haben. Der Glaube, den Menschen in Afrika dürste es nach den Verhältnissen der westlichen Welt und Wahlen würden quasi automatisch das Schaffen von demokratischen Strukturen, Meinungsfreiheit, politischem Wettbewerb, von Rechtsstaatlichkeit und Anerkennung der Kontrollfunktion der Legislative zur Folge haben, ist falsch.

Westliche Demokratien müssen nicht das einzig mögliche politische Modell für Afrika sein. Die großen Sprünge wirtschaftlicher Entwicklung in Ostasien sind nicht von Demokratien geleistet worden, sondern von autoritären Systemen, von Entwicklungsdiktaturen. Es ist undemokratisch, unklug und anmaßend, die Verhältnisse in anderen Regionen der Welt immer wieder nur nach eigenen, westlichen Maßstäben zu beurteilen, zumal wir auch in vielem uneins sind. Aber die führenden Politiker sollten – wie der ermordete Thomas Sankara oder heute Paul Kagame – eine Vorstellung von der Zukunft ihres Landes haben und davon, wie sie Wachstum und Jobs schaffen.

Wenig Begeisterung für „unsere Demokratie“ in Afrika
Afrikaner haben Sehnsucht nach einem ehrlichen, durchaus autoritären Staatsmann, der Politik kraftvoll gestaltet. Die Bevölkerung könnte sich nach meinen Erfahrungen mit dem System identifizieren, wenn es Menschenrechte achtet, eine glaubhafte Wirtschafts- und Entwicklungspolitik für das Gemeinwohl formuliert und durchgesetzt würde, die eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Masse der Menschen zum Ziele hat. Wenn ein gutes Wirtschaftsklima, transparente Gesetzgebung und Zuverlässigkeit vorhanden sind, werden die Landeskinder stolz auf die Fortschritte schauen. Was dann zählt, ist die Leistung, die Initiative, der Elan, die Kreativität, mit der sich jeder Einzelne in die Interessen des Gemeinwesens einbringen kann.

Ein vom wirtschaftlichen Überlebenskampf geplagter Mensch wird kaum die Muße haben, als Bürger in den demokratischen Kampf zu ziehen. Südlich der Sahara beruht das System auf der Prämisse, dass man sich mit einer Familie, einem Clan, einer Ethnie, einer Religion identifiziert. Nur so kann man sich beschützt fühlen bzw. fühlt sich verantwortlich. Handelt es sich um Außenstehende, wird es schwierig. Es geht nicht so sehr um Konkurrenz zwischen Parteiprogrammen, sondern um Proporz zwischen Ethnien. In einigen Sahelländern kann die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Desinformation, Wahlgeschenke, Korruption – all das ist Alltag. Im Niger und Tschad sitzen nach örtlichen Medienberichten zahlreiche Analphabeten im Parlament. Diese Abgeordneten sind nicht imstande, Gesetzesvorlagen zu lesen. Die westliche Demokratietheorie wird diesem Sachverhalt nicht gerecht.

Ich kenne Afrikaner, die Deutschland gut kennen (meist „schwarze alte Männer“) und sehr genau beobachten, wie das derzeit allgegenwärtige Politikerschlagwort „unsere Demokratie“ in Reden benutzt wird. Sie fragen, ob es es einen Unterschied gibt zwischen einer Demokratie, die für alle gilt (und die Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung mit dem Motto „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ beschwor), und der Demokratie, die die Politiker heute meinen.

Demokratieverständnis beweise sich im Umgang mit der Opposition. Afrikaner sind gegen moralische Belehrungen durch „wahre“ Demokraten empfindlich, weil sie viele Beispiele kennen, wie eine halbwegs freiheitliche Ordnung zugunsten eines dauerhaften Machterhalts abgebaut wurde, z.B. in Kamerun, in Uganda. (Auch Mao schrieb in seinem Werk „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk“ von „Unsere sozialistische Demokratie“.)

Alltagswirksame berechenbare Normen
Es spricht deshalb nichts dagegen, dass die Afrikaner ihren eigenen Weg finden, um die Art des Regierungsaufbaus anders zu bestimmen. In den meisten Staaten gibt es nachahmende Demokratien, die westliche Begriffe übernehmen und sie mit gegenteiligem Inhalt füllen. Die meisten Demokratien in Afrika sind Farcen, die ihren Völkern keine wirtschaftliche Entwicklung bringen. Funktionierende Verwaltungen oder Ansätze zu einer Gewaltenteilung sind kaum vorhanden. Demokratie setzt Ahndung von Rechtsverstößen, die Durchsetzbarkeit des eigenen Rechts, den Respekt vor dem Recht anderer, Disziplin und den Glauben an gemeinsame Interessen voraus. Es fehlt in einigen Ländern an einer verantwortungsbewussten Oberschicht.

Niemand würde den „afrikanischen Weg“ kritisieren, wenn sich Regierungen an den Bedürfnissen der gesamten Bevölkerung orientierten und den Lebensstandard für alle verbesserten. Es besteht in Afrika nicht überall Einvernehmen, dass ein demokratischer Staat die Abwahl der Regierenden, also die Möglichkeit des Regierungswechsels, voraussetzt. Das heißt, dass jede Regierung sich für ihre Politik verantworten muss: Verantwortlichkeit als wichtigstes Merkmal einer demokratischen Regierung.

Die Afrikaner möchten – wie wir – alltagswirksame berechenbare Normen. Sie wollen den Rechtsstaat nicht ständig neu verhandeln müssen. Das Wort Stabilität weckt in aller Regel positive Assoziationen. Wenn allerdings der Stabilitätsanker wie in Kamerun der 93-jährige Autokrat Paul Biya ist (siehe Achgut.com vom 14.02.2025: Der Chef hat gesagt…) und die EU und unsere Entwicklungspolitiker, auch im Namen der „Entwicklungszusammenarbeit“, die „freien und fairen“ Wahlergebnisse immer wieder hinnehmen – egal, wie sie zustande kamen, dann ist das ein Ärgernis. Sie reden immer nur von ein paar Unregelmäßigkeiten. Ein Land das systematisch brutal gegen Regimegegner vorgeht und das reich an Öl, Gas, Mineralien wie Eisenerz, Bauxit, Kobalt und Nickel ist, sollte keine Entwicklungshilfe mehr bekommen.

Keine Kompromisse bei den Menschenrechten
Es ist unerlässlich, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, weshalb sich Geberländer anmaßen, ihr vermeintliches Vorbildmodell fremden Kulturen überstülpen zu müssen. Wir sollten die Umsetzung von fragwürdigen wie selbstgefälligen – westlichen – Entwicklungsvorstellungen in fremde Kulturen kritischer hinterfragen. Die von nicht unabhängigen Organisationen praktizierten Evaluierungen sind nichts weiter als arbeitserhaltende Beurteilungen zum Wohle aller Beteiligten im Entwicklungsgeschehen.

Auch der frühere Benediktiner-Abtprimas Notker Wolf hat sich kritisch zur staatlichen Entwicklungshilfe geäußert. Der Fehler von Deutschland bestehe darin, „dass wir immer meinen zu wissen, was den anderen gut tut“, sagte Wolf. Man kann gut verstehen, dass weite Teile der Öffentlichkeit den Slogan von der Notwendigkeit zur verstärkten Bekämpfung der Fluchtursachen völlig einleuchtend halten. Diejenigen allerdings, die seit langem mit Entwicklung befasst sind, reiben sich die Augen. Es wird oft vergessen, dass politische, soziale und wirtschaftliche Probleme niemals von außerhalb gelöst werden können. Für die eigene Entwicklung gibt es nur eine einzige Gebrauchsanweisung – und die müssen die Afrikaner selbst schreiben.

Wir sollten den afrikanischen Gesellschaften überlassen, ihre eigenen politischen Systeme zu bilden. Es ist nicht unsere Aufgabe, den schwarzen Kontinent nach unserem Bild zu formen. Der Kerngedanke für uns sollte nicht Demokratie sein, sondern Menschenrechte. Hier sollten wir mit Kompromissen höchst zurückhaltend sein und Entwicklungshilfe den Regimes verweigern, die diese Rechte missachten. Westliche Regierungen verhalten sich gegenüber afrikanischen Regierungen mitunter zwiespältig und selektiv in ihren Reaktionen. Ein prinzipientreues Eintreten für die Achtung der Menschenrechte ist leider auch bei uns noch unterentwickelt.

Niemand muss meine Position teilen. Aber es sollte um eine ergebnisoffene Debatte gehen und nicht um die Bestätigung einer seit langem verfestigten politischen Linie. (Quelle: achgut.com, mit frdl. Genehmigung des Autors *Volker Seitz, Volker Seitz ist Botschafter a.D. und Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, dtv, 2021 (11. aktualisierte Auflage).