*Alfred Schlicht: Eritrea verstehen

*Alfred Schlicht: Eritrea verstehen

John Foster Dulles, der spätere Außenminister der USA, sagte 1950: „From the point of view of justice, the opinions of the Eritrean people must receive consideration. Nevertheless, the strategic interest of the United States in the Red Sea basin and considerations of security and world peace make it necessary that the country has to be linked to our ally, Ethiopia.“ Selten ist der Vorrang von Interessenpolitik gegenüber Recht und Gerechtigkeit deutlicher und freimütiger formuliert worden.

In einer Region, deren strategische Bedeutung schon seit der Antike die Politik der Großmächte bestimmte und die seit der Eröffnung des Suezkanals 1869 an Relevanz sprunghaft zunahm, waren die USA in der Mitte des 20. Jahrhunderts mehr denn je entschlossen, ihre Interessen zu sichern und den Einfluss ihrer Alliierten zu stärken.

Neuordnung in Afrika – auf Kosten eines kleinen Landes
1950 begann eine neue Zeit. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Rolle der traditionellen imperialistischen Mächte geschwunden, es war absehbar, dass die USA Großbritannien und Frankreich als westliche Vormächte im Nahen Osten ablösen würden. Es gab erste Anzeichen dafür, dass die kommunistische Sowjetunion ein ernster Rivale der USA in diesem Großraum werden könnte. Kurz zuvor war Israel gegründet worden – Spannungen zwischen der arabischen Welt und den westlichen Alliierten des jungen jüdischen Staates waren deutlich geworden.

Auch am Horn von Afrika hatte es Veränderungen gegeben. Italien, das sich 1890 als Kolonialmacht festsetzte und 50 Jahre das Land am Roten Meer, „Eritrea“, als Teil seines Imperiums in Afrika kontrollierte, war im Zuge des Zweiten Weltkriegs vertrieben worden. Großbritannien übernahm die Herrschaft über Eritrea von 1940 bis 1950.

Die Entscheidung über die Zukunft des Landes war eine Entscheidung zwischen politischem Kalkül und „Gerechtigkeit“, wie Dulles es deutlich ausgesprochen hatte. Die ehemalige italienische Kolonie sollte eine Föderation mit Äthiopien bilden, beschloss die internationale Gemeinschaft, die damals erst wenige afrikanische Mitglieder umfasste, da die meisten Länder des Kontinents noch Teil europäischer Kolonialreiche waren.

Dass es auch am Horn von Afrika zu Interessengegensätzen kommen würde und eine Verschiebung der Machtverhältnisse zuungunsten der USA verhindert werden musste, lag nahe. Außerdem befand sich in der eritreischen Hauptstadt Asmara die Kagnew-Station, ein wichtiger amerikanischer Horchposten, der es erlaubte, die gesamte internationale Kommunikation in einem weiten Raum abzuhören und der nach dem Weltkriegsende im beginnenden Kalten Krieg nichts von seiner Bedeutung verloren hatte.

Äthiopiens Kaiser, ein verlässlicher Verbündeter des Westens inmitten eines vom Islam beherrschten Umfelds, wurde als Garant amerikanischen Einflusses betrachtet. Für die USA war es wichtig, dass Äthiopien, ein vertrauenswürdiger Alliierter, die Küste des Roten Meeres kontrollierte.

England spaltet und plündert
Eine Art „Föderation“ zwischen Eritrea und Äthiopien sollte dies gewährleisten. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss dies im Dezember 1950. Äthiopien wurde als Eckstein in die Verteidigungslinie der freien Welt eingegliedert.

Damit gingen zehn Jahre britischer Herrschaft zu Ende, die dem Land nicht ausschließlich Nutzen gebracht hatten. Die Briten waren durchaus nicht nur wohlwollende Übergangsverwalter gewesen, sondern hatten sich aktiv eingemischt. In Eritrea gab es eine lebhafte Diskussion über die Gestaltung der Zukunft des Landes. Es gab „Unionisten“, die einen Anschluss des Landes an Äthiopien wünschten, und Vertreter einer völligen eritreischen Unabhängigkeit. Kein Wunder, dass die Briten diejenigen unterstützten, die Eritreas Zukunft im Kontext des äthiopischen Reiches sahen, das als wichtiger Verbündeter des Westens galt.

Bevor sich das Empire jedoch zurückzog und Eritrea der „Föderation“ mit Äthiopien überließ, plünderten die Briten das kleine Land nach allen Regeln der Kunst. Ganze Gebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht, Infrastruktur vernichtet, Eisenbahnschienen und -waggons, Industrieausrüstung, Maschinen und Apparate wurden entweder verkauft oder in andere britische Kolonien – beispielsweise nach Aden, Kenia oder Pakistan – abtransportiert.

Es handelte sich nicht nur um Kriegsmaterial, das die Briten ins Land gebracht hatten, sondern um wirtschaftlich wertvolle technische Anlagen noch aus italienischer Zeit – Schiffe, Sendeanlagen und Öltanks verschwanden, Häfen wurden ihrer wichtigen Ausrüstung beraubt, Wohnhäuser wurden zerstört. Die eritreischen Häfen hatten einen Teil ihrer Kapazitäten verloren, die bescheidene Industrie war zum größten Teil nicht mehr funktionsfähig, die Goldförderung ging drastisch zurück. Eine Wirtschaftskrise in Eritrea war die Folge.

Ein britischer Soldat hatte einer Gruppe jubelnder Eritreer, die sich freuten, dass Großbritannien die italienische Herrschaft beendete, in zynischer Weise gesagt: „I didn’t do it for you.“ In der Plünderung Eritreas fand dieser Satz seine Konkretisierung. Man hatte das Land nur im eigenen Machtinteresse von den Italienern befreit, nicht um des Landes oder seiner Menschen willen, deren Interessen und Wohl keine Rolle spielten.

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* Alfred Schlicht ist Verfasser des Buches „Das Horn von Afrika“ (Kohlhammer 2021)