
Am Freitag, dem 23. Mai 2025, marschierten mehrere tausend Demonstrierende im Senegal gegen die Rechte von LGBT-Personen – angeblich im Namen der „Souveränität“ gegenüber dem Westen. Doch ein frappierender Widerspruch sticht ins Auge: Der antikoloniale Protest fordert in Wirklichkeit die Verschärfung von Strafgesetzen, die direkt aus der französischen Kolonialzeit stammen.
Eine paradoxe Wendung, die Zweifel an der Echtheit der beschworenen „traditionellen Werte“ aufwirft und zugleich einen alarmierenden Rückschritt bei den Freiheitsrechten in einem Land signalisiert, das lange als Vorbild demokratischer Stabilität galt.
Ein Protestmarsch mit religiöser und nationalistischer Symbolik
Unmittelbar nach dem Freitagsgebet versammelten sich zwischen 8.000 und 15.000 Menschen im Viertel Ngor, schwenkten Koranexemplare, Nationalflaggen und Plakate mit Slogans wie „Nein zur LGBT-Agenda“ oder „Senegal duldet keine Homosexualität“. Die vom Präfekten genehmigte Demonstration zog vom Rond-Point Brioche-Dorée bis zum Rond-Point Casino, nahe eines Wohnhauses, in dem ein europäischer Staatsbürger, dem Homosexualität vorgeworfen wurde, lebte.
Der Protest wurde vom Kollektiv „Rappel à l’Ordre“ organisiert, unterstützt von der islamischen NGO Jamra und mehreren religiösen Bewegungen. Nach Angaben der Veranstalter nahmen „mehrere Zehntausend“ Menschen teil. Unter den Wortführern: der Aktivist Karim Xrum Xax und der Abgeordnete Abdou Mbow, die eine vorwiegend junge, männliche Menge anführten, flankiert von Koranschülern (Talibés) und Predigern.
Vom provisorischen Podium aus forderte Abou Diallo lautstark: „Der wahre Dialog besteht in der Kriminalisierung der Homosexualität!“ – ein Satz, den die Menge im Chor wiederholte. Die Demonstrierenden setzten der Regierung Faye-Sonko eine sechsmonatige Frist, um Artikel 319 des Strafgesetzbuchs – der „widernatürliche Handlungen“ bereits mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft – in ein Verbrechen mit bis zu 15 Jahren Gefängnis umzuwandeln.
Pressefreiheit in Gefahr
Der Protest nahm eine beunruhigende Wendung, als das Team des Fernsehsenders Walf TV, das über die Demonstration berichten wollte, von einem Teil der Demonstrierenden angegriffen wurde. Nur durch das schnelle Eingreifen der Polizei konnten physische Übergriffe verhindert werden. Die Mediengruppe Walfadjri verurteilte die „barbarischen Handlungen“ scharf und kündigte rechtliche Schritte an.
Der Vorfall zeigt ein zunehmend feindseliges Klima gegenüber abweichenden Stimmen im senegalesischen Diskurs und erschwert die Verteidigung der Meinungsfreiheit. „Die Gewalt gegen Journalist*innen zeigt, dass dieser Bewegung jeglicher Widerspruch unerträglich ist“, sagt Fatou Kiné Camara, Leiterin einer Menschenrechtsorganisation. „Heute sind nicht nur homosexuelle Menschen das Ziel – sondern jede Stimme, die sich gegen die Radikalisierung stellt.“
Vergessene Toleranz und ein paradoxes „Zurück zu den Wurzeln“
Die Ironie des Protestes wird deutlich, wenn man seine historischen Grundlagen betrachtet: Die Demonstrierenden, die sich gegen westlichen Einfluss wehren wollen, fordern in Wahrheit eine Verschärfung eines Gesetzes, das direkt aus der französischen Kolonialgesetzgebung stammt. Denn das vorkoloniale Senegal – das oft als „Land der Gastfreundschaft“ (Teranga) bezeichnet wird – war homosexuellen Menschen gegenüber deutlich toleranter.
Anthropologische Studien zeigen, dass es vor der Kolonialzeit soziale Anerkennung für sogenannte goor-jigeen gab – Männer, die weibliche Rollen einnahmen. Sie spielten teils wichtige rituelle Rollen in traditionellen Zeremonien. Diese frühere Toleranz steht in scharfem Kontrast zur heutigen Repression.
„Man muss sich klarmachen, dass Homosexualität in vorkolonialen senegalesischen Gesellschaften nicht kriminalisiert war“, erklärt ein Historiker der Universität Cheikh Anta Diop. „Die heutige Repression ist weitgehend ein Erbe des französischen Kolonialrechts, das im 20. Jahrhundert durch den hegemonialen Einfluss der islamischen Bruderschaften noch verstärkt wurde.“
Dies wirft die grundlegende Frage auf: Wer verteidigt tatsächlich „senegalesische Werte“? Diejenigen, die härtere Strafen im Namen der Tradition fordern – oder jene, die darauf hinweisen, dass diese Repression selbst kolonialen Ursprungs ist?
Homophobie als geopolitisches Signal
Die Bewegung offenbart politische Spannungen, die weit über LGBT-Rechte hinausgehen. In vielen Ländern des Globalen Südens dient Homophobie zunehmend als Marker der Abgrenzung gegenüber dem Westen – und dabei wird Geschichte bewusst verzerrt. Bei der Demonstration waren pro-russische und antikolonialistische Parolen zu hören, die diesen strategischen Missbrauch unterstreichen.
Die Behauptung, ein „westliches LGBT-Programm“ abzuwehren, wird zur Ausdrucksform nationaler Souveränität – ein Narrativ, das die tatsächliche historische Existenz der goor-jigeen ignoriert. „Dieser geopolitische Missbrauch verwandelt eine gesellschaftliche Debatte in ein Werkzeug antiwestlicher Rhetorik“, warnen Menschenrechtsexperten. „Das verhindert jede rationale Diskussion.“
Wenn Religion und Politik verschmelzen
Die fast ausschließlich männliche Demonstration, organisiert von religiösen Netzwerken und begleitet von Predigten, zeugt von einer politischen Mobilisierung unter dem Deckmantel religiöser Moral. Jamra-Sprecher Mame Makhtar Guèye sprach von einer „göttlichen Kriminalisierung“ der Homosexualität.
Politiker befeuern die Polarisierung in sozialen Netzwerken: Abdou Mbow erinnert Premierminister Ousmane Sonko an dessen Wahlversprechen, die „Werte“ zu schützen, während Xrum Xax dem alten Regime vorwirft, dem „LGBT-Programm“ nachgegeben zu haben.
Dennoch gibt es auch gemäßigtere Stimmen aus religiösen Kreisen. „Der Islam predigt vor allem Mitgefühl und Barmherzigkeit“, sagt ein Imam aus Dakar anonym. „Diese Eskalation spiegelt nicht den Geist unserer Religion wider.“ Solche Positionen haben es jedoch schwer, im aktuellen Klima Gehör zu finden.
Ein Klima der Angst und schwindende Freiheiten
Die Radikalisierung äußert sich nicht nur in Worten. Die kürzliche Ausgrabung und Verbrennung eines mutmaßlich homosexuellen Mannes in Kaolack 2023 blieb bislang ohne klare Verurteilung durch die Behörden – ein bedrohliches Schweigen, das viele als stillschweigende Duldung verstehen.
„Wir erleben eine besorgniserregende Eskalation“, warnt ein Vertreter der Zivilgesellschaft. „Wenn symbolische Gewalt toleriert wird, folgt ihr oft reale Gewalt.“ Die Angriffe auf Walf TV und die aufhetzenden Parolen gegen LGBT-Personen bedrohen nicht nur Minderheiten, sondern auch die Meinungsfreiheit und den gesellschaftlichen Pluralismus. Viele Journalist*innen und Intellektuelle äußerten sich nur anonym – ein deutliches Zeichen zunehmender Einschüchterung.
„Die wahre Gefahr ist die Entstehung einer Denkweise, die keine Abweichung mehr zulässt“, warnt ein senegalesischer Kommentator. „Heute geht es gegen LGBT, morgen vielleicht gegen andere. Diese Dynamik bedroht die Grundlagen unserer Demokratie.“
Ein europäischer Diplomat in Dakar bringt es auf den Punkt: „Der Senegal hat sich einen Ruf für Offenheit und Stabilität erarbeitet. Ein Rückfall in Intoleranz könnte langfristige Folgen für unsere Partnerschaften haben.“ Und er fügt hinzu: „Die senegalesische Gesellschaft ist vielfältiger, als diese Demonstrationen vermuten lassen. Es gibt eine schweigende Mehrheit, die für Toleranz steht – sie muss ihre Stimme zurückgewinnen.“ (Quelle: afrik.com)